Der Krieg in Syrien ist vorbei, doch immer noch sterben fast jeden Tag Menschen: Ein junger Schafhirte in Deir Essor im Osten des Landes, ein Bauer im nordwestsyrischen Idlib und ein Kind in einem Dorf westlich der Großstadt Aleppo - sie alle wurden in den letzten Tagen bei Explosionen von Landminen und Munition getötet. Hilfsorganisationen zählten allein vorige Woche mehr als 40 Todesopfer, darunter acht Kinder. In dieser Woche gab es weitere Tote, darunter zwei Brüder, die bei der Explosion einer Landmine in Homs starben. Seit dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad im Dezember sind mehr als 400 Menschen ums Leben gekommen.
„Wir schätzen, dass es mehrere Millionen Landminen und nicht explodierte Granaten und Raketen in Syrien gibt“, sagt Mouiad Alnofaly, der für das britische Hilfswerk HALO Trust in Syrien nach den Sprengsätzen sucht. „Rund 80 Prozent davon wurden vom Regime gelegt, der Rest sind improvisierte Sprengsätze des Islamischen Staates“, sagte Alnofaly unserer Redaktion.
Baschar al-Assad ließ zehntausende Fassbomben abwerfen
Minen und Munition stammen vorwiegend aus russischer und iranischer Herstellung. Hinzu kommen die gefürchteten Fassbomben, die von Assads Regime gebaut wurden. Die syrische Luftwaffe warf nach einer Zählung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als 80.000 Fassbomben ab, die mit kleineren Sprengsätzen und Metallstücken gefüllt waren und beim Aufschlag viele Menschen durch Splitter töteten. Tausende nicht explodierte Fassbomben liegen heute auf den Feldern.
Die Zahl der Opfer steigt auch nach Kriegsende weiter, weil sich die Syrer jetzt freier in ihrem Land bewegen. „Bauern kommen in ihre Dörfer zurück und wollen ihre Felder bestellen oder nach ihren Olivenbäumen schauen“, sagt Sami Mohammad von der syrischen Organisation Weißhelme. Bis Dezember verliefen die Fronten zwischen Assads Truppen und den syrischen Rebellen über Äcker und Straßen, manche Gegenden wechselten mehrmals zwischen der Regierung und den Rebellen hin und her. „Jetzt betreten die Leute ein Minenfeld, ohne es zu wissen“, sagt Mohammad.
Über hunderte Kilometer zogen sich die Frontverläufe in 13 Jahren Krieg quer durch ganz Syrien. Manche Gebiete sind dünn besiedelt, doch andere Regionen erleben seit Dezember einen Ansturm von Rückkehrern. Besonders viele Unfälle mit Minen und Munition gibt es in lange umkämpften, landwirtschaftlich genutzten Gegenden um Idlib, Latakia, Hama und Aleppo. „Die Leute freuen sich, dass der Krieg vorbei ist, und wollen nach Hause“, sagt Alnofaly. „Auch Syrer aus dem Ausland kommen zurück.“
Gefahr durch Landminen in Syrien steigt, sobald Bauern ihre Felder bestellen
Fast jedes Mal, wenn die Experten anrücken, um eine Mine oder eine Granate unschädlich zu machen, kommen Bewohner der Gegend und machen sie auf weitere Sprengsätze auf Feldern, in Gärten und in Häusern aufmerksam, wie die Helfer von HALO berichten. Mal finden Bauern beim Pflügen ihrer Felder hochgefährliche Brandbomben, die nicht explodiert sind, mal werden zurückgelassene Artilleriegeschosse entdeckt, mal liegt eine nicht explodierte Rakete in einer Hausruine.
Die Gefahr wird mit dem Beginn der Aussaat im Frühjahr und dem Ende des Schuljahres im Frühsommer noch wachsen, denn dann werden mehr Menschen im Land und auf den Äckern unterwegs sein als jetzt im Winter. „Die Minenfelder sind nicht markiert, weil das Regime seine Gegner nicht warnen wollte“, sagt Alnofaly. „Oft fällt eine gefährliche Gegend erst dann auf, wenn etwas passiert.“ Von selbst wird die Gefahr nicht vorübergehen. „Die Minen werden jahrzehntelang gefährlich bleiben. Sie haben kein Verfallsdatum.“
Hilfe von der neuen syrischen Regierung in Damaskus gibt es bisher nicht. Assads Armee wurde aufgelöst, und die vielen verschiedenen Milizen, die bis Dezember gegen den Diktator kämpften, müssen erst noch in neue Streitkräfte eingegliedert werden. Weil es nicht genügend Experten gibt, machen sich manchmal Kämpfer lokaler Milizen daran, Minen zu entschärfen. Nördlich von Aleppo starben vor kurzem zwei Kämpfer einer pro-türkischen Miliz beim Versuch, eine Landmine unschädlich zu machen.
Sami Mohammad von den Weißhelmen ruft die internationale Gemeinschaft zur Hilfe. Gebraucht würden technische Unterstützung, neue Ausrüstung, Hilfe bei der Ausbildung und Geld. „Dies ist eine der größten Krisen für Syrien überhaupt“, sagte Mohammad über die Gefahr durch Minen und Munition. „Wir brauchen eine echte Kraftanstrengung.“
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