Erst zum vierten Mal in der über 70-jährigen Geschichte des Europarats treffen sich die Staats- und Regierungschefs heute und morgen zu einem Gipfel.
Die Gästeliste hat es in sich: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der französische Präsident Emmanuel Macron, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, aber auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und viele mehr wollen im isländischen Reykjavik über die Einhaltung der Menschenrechte und mehr Unterstützung für die Ukraine reden.
Der erste Gipfel seit fast 20 Jahren soll der Ausgangspunkt für eine Neuausrichtung des Europarats sein, hieß es im Vorfeld. Ein Europarat 2.0 scheint dringend nötig, denn die Organisation hat ein Imageproblem. Kaum jemand kennt die Institution, die nichts mit der EU zu tun hat.
Organisation auf wackeligen Beinen
Der Europarat wurde 1949 als einer der ersten politischen Organisationen in Europa gegründet. Ihm gehören 46 Staaten an, darunter alle 27 Mitgliedsstaaten der EU, aber auch etwa Großbritannien, die Türkei, die Ukraine oder Aserbaidschan. Die Kernanliegen sind die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat.
Die Organisation stand zuletzt allerdings auf eher wackeligen Beinen. Wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde Russland im vergangenen Jahr ausgeschlossen.
Mit dem Gipfel soll nun auch Geschlossenheit signalisiert werden, denn es gibt noch weitere Wackelkandidaten, bei denen nicht sicher ist, wie unverbrüchlich sie tatsächlich zum Europarat stehen - was vor allem an den Gerichtsurteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegt. Dieser gehört zum Europarat. Er kann die Mitgliedsländer beispielsweise zu Geldstrafen verurteilen, wenn sie die Menschenrechtskonvention nicht respektieren.
Die Beziehungen mit dem Mitgliedsland Türkei sind deswegen in den vergangenen Jahren immer konfliktreicher geworden. Die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan hat ihren Einfluss auf die Justiz in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut und viele ihrer Kritiker eingesperrt. Urteile des EGMR kritisierte sie häufig als ausländische und unrechtmäßige Einflussnahme.
Die Straßburger Institution hat wegen der Nichtumsetzung von Urteilen und damit einhergehenden Menschenrechtsverstößen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei eingeleitet. Doch Erdogan könnte Ende des Monats Geschichte sein. Sein Herausforderer bei der Stichwahl um das Präsidentenamt am 28. Mai, Kemal Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen Partei CHP, verspricht Veränderung. Er will die Justiz des Landes wieder unabhängig machen. Das bedeute auch, sich an Urteile des EGMR zu halten, sagte er vor der Wahl. Doch dass das nach 20 Jahren Erdogan nicht von heute auf morgen geschieht, scheint eher wahrscheinlich.
Großbritannien kritisch gegenüber EGMR-Urteilen
Auch Großbritannien hat seine Schwierigkeiten mit den Urteilen des EGMR. Entzündet hat sich der Ärger der konservativen britischen Regierung daran, dass der EGMR 2022 in letzter Sekunde einen Abschiebeflug mit unerlaubt eingereisten Migranten untersagt hatte. Nun verlangen vor allem Brexit-Hardliner in der Tory-Partei von Premierminister Rishi Sunak, die demokratisch gewählte britische Regierung und nicht "ungewählte europäische Richter" müssten die letzte Entscheidung treffen dürfen. Im umstrittenen Asylgesetz, das derzeit durchs Parlament geht, ist ein solcher Passus geplant.
Wiederholt forderte der rechte Tory-Flügel, Großbritannien solle doch einfach aus der Menschenrechtskonvention aussteigen, wenn sich Straßburg nicht auf Kompromisse einlasse. Eine britische "Bill of Rights", die dem Obersten Gericht in London in Menschenrechtsfragen das letzte Wort zubilligen und dafür sorgen sollte, dass einstweilige Verfügungen des EGMR in Großbritannien nicht mehr bindend sind, ist allerdings erst einmal gestoppt. Der zuständige Justizminister Dominic Raab musste wegen Mobbingvorwürfen zurücktreten.
Unter diesen Vorzeichen wird eines der Themen beim zweitägigen Gipfel die Unabhängigkeit der Justiz und ein erneutes Bekenntnis der Mitgliedsstaaten zur Menschenrechtskonvention sein. Der Fokus liegt aber auch auf einer besseren Unterstützung der Ukraine. Wichtigster Punkt wird das geplante Schadensregister sein. Damit sollen die Kriegsschäden in der Ukraine dokumentiert werden, um Russland zur Verantwortung ziehen zu können.
(dpa)