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Foto: Michael Mazohl
Foto: Michael Mazohl

Im "Garten der Begegnung" hinter dem Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen: Geflüchtete sind hier stark auf die Hilfe der Zivilgesellschaft angewiesen.

Österreich
18.12.2022

Geflüchtete landen auf der Straße – weil die Politik es so will?

Von Werner Reisinger

Plus In Österreich werden Geflüchtete zum Spielball der Politik. Das zeigt sich auch in Traiskirchen. Dort befindet sich das größte Erstaufnahmezentrum des Landes.

Ein windiger, bitterkalter Samstagmittag in Traiskirchen, im Süden von Wien – nicht gerade die Witterung, die zu einem Picknick einlädt. Auf den Gehsteigen rund um Österreichs größtes Asyl-Erstaufnahmezentrum, untergebracht in einer ehemaligen Kaserne, setzen sich Menschen in Bewegung, in kleineren und größeren Gruppen. Ihr Ziel ist eine nahe Wiese. Schon auf dem Weg riecht es nach Suppe und nach dem Rauch des Lagerfeuers, das Geflüchtete entzündet haben. Am Feuer haben sich Jugendliche versammelt, junge Männer, Kinder und ihre Eltern. Die meisten von ihnen kommen aus dem Irak, aus Afghanistan und Syrien. Bis zu 15 Monate dauerte ihre Flucht, häufig über die sogenannte Balkan-Route, über Ungarn in den Osten Österreichs.

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Wer hier am Lagerfeuer steht oder sich für eine Suppe anstellt, hatte Glück. Auch das, vor „Pushbacks“ an der EU-Außengrenze, etwa in Kroatien, verschont geblieben zu sein. Das Wort „Pushback“ meint das oft brutale und illegale Zurückdrängen von Migranten. Endlich angekommen in Traiskirchen, stehen diese dennoch vor dem Nichts: Viele von ihnen tragen lediglich Badeschlappen oder Hausschuhe. Ohne Socken. Winterjacken haben die wenigsten. An einem Stand wird daher Kleidung ausgegeben, „mit System“, wie eine der freiwilligen Helferinnen erklärt. Heißt: Wer einen entsprechenden Abholschein vorzeigt, bekommt, was er oder sie dringend braucht. Mäntel, Schuhe, einen Kinderwagen.

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Foto: Michael Mazohl
Foto: Michael Mazohl

SPÖ-Bürgermeister Andreas Babler ist zu so etwas wie einer Symbolfigur geworden.

An einem weiteren Stand wird Gemüsebrühe in Pappschüsseln ausgeschenkt, es gibt Schwarztee und für die Kleinen Schokolade und andere Süßigkeiten. Im Sommer, sagt eine Helferin und deutet auf einen leeren Holzverschlag, sei hier auch ein „Freiluft-Friseur“. Rund um die Wiese ziehen Ehrenamtliche und Geflüchtete in den warmen Monaten Gemüse: „Garten der Begegnung“ nennt sich das Projekt, 2015 initiiert vom ehemaligen Filmarchitekten Nikolai Ritter.

Bürgermeister von Traiskirchen ist seit 2015 eine Symbolfigur der österreichischen Zivilgesellschaft

Jeden Samstag, erklären die Freiwilligen weiter, wird Geflüchteten an diesem Ort geholfen, die Aktion sei inzwischen ein Fixpunkt für alle, die im oder vor dem Erstaufnahmezentrum stranden.

Mitten drin an diesem Tag: Andreas Babler. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Traiskirchen ist seit den Flüchtlingsbewegungen von 2015 so etwas wie eine Symbolfigur der österreichischen Zivilgesellschaft: Ein Bürgermeister, der anpackt, anstatt Probleme möglichst von seiner Gemeinde wegzuschieben. Einer, der konkret hilft und Mitmenschlichkeit in den Vordergrund stellt, dabei aber die Probleme in seiner Gemeinde nicht vergisst. Und die, sagt Babler, gebe es immer wieder: „Es sind natürlich junge Männer, die tagsüber ihre Quartiere verlassen.“ Manche von ihnen würden an der Bahnstation herumlungern, es komme vor, dass Frauen mit „Heiratsangeboten“ belästigt würden. „Das lösen wir über Sozialarbeiter“, sagt Babler. Für ernsthaften Unmut würden solche Vorfälle nicht sorgen.

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Situationen zu meistern, mit denen andere längst überfordert wären, aktiv zu sein, wo Behörden und Politik Bürgerinnen und Bürger im Stich ließen – das seien die Traiskirchner gewöhnt, sagt ihr Bürgermeister. Er ist froh, dass die Zahlen der Neuankömmlinge gerade aufgrund der winterlichen Temperaturen sukzessive zurückgehen. Schließlich sei man „wieder einmal“ kurz vor der Eskalation gestanden. Denn: Planmäßig sollten um die 500 Asylsuchende in Traiskirchen untergebracht werden, das sei die „politisch festgesetzte Zahl“, so Babler. Ab 700 sei die Situation intern eigentlich kaum mehr tragbar, und das sei bereits Ende 2021 der Fall gewesen. Aktuell sind rund 1800 Personen im Aufnahmezentrum. Es ist völlig überfüllt. Und immer wieder stehen Asylsuchende auf der Straße. „Sie werden vom System obdachlos gemacht“, sagt Babler. Andere Gemeinden würden die Geflüchteten einfach weiter nach Traiskirchen schicken – wo diese vor den Toren des Aufnahmezentrums dann eben strandeten.

SPÖ-Bürgermeister Babler: Man will die Situation politisch bewusst wieder und weiter eskalieren lassen

An die 750 Personen hätten er und sein Team in den vergangenen Wochen von der Straße aufgelesen, weil sie im Aufnahmezentrum nicht mehr aufgenommen worden seien. „Die würden sonst irgendwo in Traiskirchen herumsitzen“, sagt der SPÖ-Politiker. Um das zu vermeiden, hat die Gemeinde im Ort ein Übergangsquartier eingerichtet. Wo genau es sich befindet, will Babler nicht sagen – aus Angst vor Übergriffen wie jenen der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ kürzlich in Traiskirchen.

Babler ist sich sicher: Man will die Situation politisch bewusst wieder und weiter eskalieren lassen, dabei sei die Zahl der Geflüchteten heute noch immer deutlich unter der des Sommers 2015. Der Grund aus seiner Sicht: In Niederösterreich wird Ende Januar ein neuer Landtag gewählt, die amtierende ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner will ihre absolute Mehrheit verteidigen. So kurz vor der Wahl, das sei laut Babler das Kalkül der Landeshauptfrau, wolle die ÖVP ihre Wählerinnen und Wähler keinesfalls mit neuen Unterkünften für Asylsuchende in den Gemeinden vor den Kopf stoßen.

Österreich regelt die Unterbringung von Asylwerbern, wie sie dort genannt werden, über „15a-Vereinbarungen“ zwischen Bund und Ländern. Aktuell erfüllen jedoch nur Wien und das Bundesland Burgenland, beide von der SPÖ geführt, die vorgesehene Quote. Ein Durchgriffsrecht des Bundes gibt es seit dem Jahr 2018 nicht mehr.

Niederösterreich weigere sich, ausverhandelte, neue Asylquartiere amtlich zu bewilligen, wirft dem Land SPÖ-Bürgermeister Babler vor. „Rund 4000 Plätze in den Ländern bräuchte es, um die Situation zu entschärfen, das ist machbar, aber offensichtlich nicht gewollt.“ Und: „Man will in Traiskirchen bewusst das Bild des überfüllten Massenlagers erzeugen, damit das Thema medial weiter stark bleibt.“ Und: Die ÖVP wolle sich in rechtspopulistischer Manier als Hardliner inszenieren – „auf dem Rücken von Unschuldigen“.

Die ÖVP von Bundeskanzler Nehammer tut alles, um mit dem Asylthema in die Schlagzeilen zu kommen

Tatsächlich versucht die ÖVP von Bundeskanzler Karl Nehammer alles, um mit dem Asylthema in die Schlagzeilen zu kommen – und damit den Fokus von den andauernden, massiven Korruptionsaffären zu lenken. Mit ihrer Forderung nach einer „Überarbeitung“ der Europäischen Menschenrechtskonvention sorgten ÖVP-Länderchefs vor ein paar Wochen für heftige Kritik: Es brauche eine Lösung für „Wirtschaftsflüchtlinge“, denn für diese sei die Menschenrechtskonvention nicht mehr zeitgemäß, hatte es geheißen.

Im Streit mit den aufnahmesäumigen Ländern gingen der Bund und das ÖVP-geführte Innenministerium im vergangenen Herbst dazu über, in vielen Gemeinden Zelte für Asylwerber aufzustellen – die Empörung der Bürgermeister folgte sofort. Mittlerweile sind die meisten Zelte geräumt, der Eindruck einer Überforderung bleibt. Und so können sich Bundeskanzler Nehammer und sein Innenminister Gerhard Karner als Problemlöser inszenieren: Künftig sollen im Rahmen einer „Operation Fox“ getauften Aktion österreichische Polizisten gemeinsam mit ungarischen Beamten auf ungarischem Territorium Geflüchtete aufgreifen. 

Nehammer und Karner berufen sich auf die Zahlen – rund 100.000 illegale Migranten habe man 2022 an der Grenze aufgegriffen, 75.000 davon seien zuvor in keinem EU-Land registriert worden, wie es aus dem Innenministerium heißt. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen attestierte Österreich eine besondere Last in der aktuellen Fluchtbewegung. Bedenken, dass Österreich sich mit der „Operation Fox“ an Ungarns von der EU als illegal eingestuften Rückschiebe-Praxis beteiligen würde, weist man in Wien von sich.

"Illegale Migration" in Dauerschleife: Nützt das wirklich der ÖVP?

Und geht noch einen Schritt weiter. Er wolle gerne wieder über Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien diskutieren, ließ der ÖVP-Innenminister wissen, auch wenn Abschiebungen „aktuell noch nicht möglich“ seien. Die illegale Migration über Rumänien und Bulgarien sei auch der Grund für Österreichs Veto gegen deren Aufnahme in den Schengen-Raum gewesen, betont die ÖVP-Regierungsspitze. Das Österreich damit nicht nur vehemente Kritik von der EU und Boykott-Aufrufe in den beiden betroffenen Ländern auf sich zog, scheinen Nehammer und sein Innenminister in Kauf zu nehmen. „Wegen der Niederösterreich-Wahl blockiert die ÖVP ganz Europa“, kommentiert der Traiskirchner Bürgermeister Babler.

„Illegale Migration“ in Dauerschleife und die dazugehörigen Bilder aus einem Erstaufnahmezentrum wie dem in Traiskirchen: Nützt das wirklich der ÖVP? In Umfragen jedenfalls scheint es den angeschlagenen Konservativen kaum zu helfen. Im Gegenteil: Die rechtspopulistische FPÖ hat die SPÖ vom ersten Platz verdrängt, die ÖVP liegt nur mehr an dritter Stelle. Die Anti-Asyl-Diskussion bewirkte allerdings bei den Sozialdemokraten einen Kurswechsel: Parteichefin Pamela Rendi-Wagner stellte sich hinter das Schengen-Veto der ÖVP. Die spricht von „Flucht ins österreichische Sozialsystem“ und von „Asyltourismus“ – ein Begriff, den auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder 2018 verwendet hatte, ihn nach vielfacher Kritik, unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, jedoch nicht mehr verwenden wollte.

Zurück nach Niederösterreich: Dass der Vorwurf des Traiskirchner SPÖ-Bürgermeisters Andreas Babler, die österreichische Regierung würde die Situation bewusst eskalieren lassen, nicht ganz von der Hand zu weisen ist, zeigen jüngste Medien-Recherchen: Aus „innenpolitischen Gründen“ wollte Österreich auch nach der Machtergreifung der Taliban Abschiebungen nach Afghanistan, heißt es in kürzlich veröffentlichten Papieren der deutschen Botschaft in Wien. Die ÖVP-Spitze fürchtete demnach eine „erstarkende FPÖ“.

Auch im Jahr 2015 kamen zahlreiche Migranten ins Land

Während mit dem Asylthema also Wahlkampf betrieben und Politik gemacht wird, ist von den gemeinsamen Anstrengungen, mit denen die Krise des Sommers 2015 bewältigt werden konnte, nichts mehr übrig. Damals kamen zahlreiche Migranten ins Land, Politik und Zivilgesellschaft übten den Schulterschluss. Nun beklagen Flüchtlings-Initiativen und Nichtregierungsorganisationen, dass für private Quartiergeber keine zentralen Ansprechpartner zur Verfügung stehen würden. Der Staat würde die privaten Helfer inmitten der gegenwärtigen Teuerungskrise mit den Kosten allein lassen. Auch von der Regierung im Jahr 2015 organisierte „Bürgermeister-Treffen“, die maßgeblich dazu beitrugen, Fragen der Unterbringung auf kommunaler Ebene zu lösen, gibt es längst nicht mehr – und das, obwohl auch ÖVP-Politikerinnen und -politiker regelmäßig eine Arbeitserlaubnis für Asylwerber fordern.

Und so stehen Babler und seine Freiwilligen in Traiskirchen buchstäblich allein auf weiter Flur. Weitermachen werden sie dennoch. Die Energie dazu schöpfen sie unter anderem aus Beispielen wie dem des ehrenamtlichen Helfers und Übersetzers Delshad Bazari: Der Syrer kam Ende 2014 als Geflüchteter nach Traiskirchen – heute lebt er wieder hier, mit Frau und Kindern, die er nachholen konnte. Bazari ist inzwischen Unternehmer und stolzer Chef seiner eigenen Möbeltischlerei. Er hat es geschafft.

Für die Asylwerber, die an diesem bitterkalten Samstagmittag am Lagerfeuer nahe von Österreichs größtem Erstaufnahmezentrum sitzen, frieren und Suppe löffeln, bleibt das vorerst ein Traum.

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