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Nahost-Expertin im Interview: Kaum Hoffnung auf schnelle Lösung

Interview

„Tatsächlich haben sich die Kriegsziele Israels im Gazastreifen verändert“

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    Protest für die Freilassung der Hamas-Geiseln in Israel. Zunehmend wird allerdings auch gegen die Kriegspolitik der Regierung demonstriert.
    Protest für die Freilassung der Hamas-Geiseln in Israel. Zunehmend wird allerdings auch gegen die Kriegspolitik der Regierung demonstriert. Foto: Ariel Schalit, dpa

    Frau Asseburg, „Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza - Hintergrund, Eskalation, Folgen“ ist nicht nur der Titel Ihres gerade erschienenen Buches, es beschreibt offenbar auch treffend den derzeitigen Schwerpunkt Ihrer Arbeit als Nahost-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Hatten Sie beim Ausbruch des Gaza-Krieges bereits eine Ahnung, dass der Konflikt lange anhalten könnte? Oder gab es im Oktober 2023 zunächst noch Hoffnung auf ein schnelles Ende?
    MURIEL ASSEBURG: Die Angriffe der Hamas und anderer bewaffneter Gruppierungen aus dem Gazastreifen auf Israel waren eine Zäsur - noch nie seit seiner Entstehung war Israel in diesem Ausmaß angegriffen worden. Noch nie waren so viele Zivilisten zum Teil brutal ermordet, noch nie so viele Geiseln aus Israel verschleppt worden. Für viele Israelis waren die Angriffe ein antisemitisches Pogrom mit genozidaler Absicht. Auch hatten Regierung, Militär und Geheimdienst dabei versagt, die Angriffe zu verhindern. Die erste Reaktion war chaotisch und kostete weitere Israelis das Leben. Das beschädigte auch das Selbstverständnis Israels. Hinzu kamen dann ab dem 8. Oktober Raketen- und Drohnenangriffe von weiteren Elementen der sogenannten Achse des Widerstands, also von der libanesischen Hisbollah, den jemenitischen Huthi und mit dem Iran verbündeten Milizen in Syrien und im Irak. Vor diesem Hintergrund war klar, dass Israel massiv zurückschlagen würde, um Vergeltung zu üben und seine Abschreckung wiederherzustellen. Hoffnung auf ein schnelles Ende gab es daher im Oktober 2023 nicht. Dennoch war auch nicht abzusehen, dass der Krieg im Gazastreifen so lange andauern würde.

    Als vor drei Monaten die Waffenruhe im Gazastreifen in Kraft trat, schöpfte die Welt Hoffnung. Zwei Monate später war die Waffenruhe gebrochen. Jetzt will Israel alle eroberten Gebiete im Gazastreifen dauerhaft unter militärischer Kontrolle behalten. Ist das die nächste Eskalationsstufe?
    ASSEBURG: Tatsächlich haben sich die Kriegsziele Israels im Gazastreifen verändert. Der Verteidigungsminister hat angekündigt, die erweiterte Pufferzone entlang der Grenze zu Israel und Ägypten - derzeit rund ein Drittel des ohnehin schon stark bevölkerten Gebiets - dauerhaft unter Kontrolle der israelischen Armee halten zu wollen. Die Bevölkerung wird auf dem verbleibenden Gebiet zusammengedrängt und verliert Wohnraum und landwirtschaftliche Flächen. Schon seit Anfang März lässt Israel keine Hilfsgüter, kein Wasser, keinen Strom mehr in den Gazastreifen.

    Warum?
    ASSEBURG: So soll die Bevölkerung unter Druck gesetzt werden, um Hamas zu stürzen und die Geiseln zu befreien. Es gibt zwar mittlerweile Proteste gegen den Krieg und die Mitverantwortung der Hamas, aber einen Aufstand dürfte es angesichts der Bombardierungen, der erneuten Evakuierungsanordnungen, der katastrophalen humanitären Situation und der Repression der Hamas kaum geben. Nicht zuletzt sieht die Regierung Netanjahu den Vorstoß von US-Präsident Donald Trump, die Bevölkerung des Gazastreifens zu vertreiben, mittlerweile als möglichen Ansatz für eine dauerhafte Konfliktlösung - der Premierminister selbst spricht von ihr als „einzig gangbarer Option“. In diesem Sinne ist auch im Verteidigungsministerium bereits eine Abteilung eingerichtet worden, die die „freiwillige Ausreise“ operationalisieren soll.

    Fernsehbilder zeigen eine immense Zerstörung der Häuser, der gesamten Infrastruktur im Gazastreifen. Können dort in Zukunft überhaupt noch Menschen leben?
    ASSEBURG: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind über 90 Prozent der Häuser im Gazastreifen zerstört oder beschädigt, rund Dreiviertel der landwirtschaftlichen Flächen sind zerstört. Die gesamte zivile Infrastruktur - Wasser- und Stromversorgung, Schulen und Krankenhäuser -, aber auch Kultureinrichtungen und antike Stätten sind stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Derzeit sind in der Tat weite Teile des Gebiets unbewohnbar; auf absehbare Zeit fehlt es an Lebensgrundlagen. Dennoch ist natürlich ein Wiederaufbau möglich. Die arabischen Staaten haben Anfang März einen Plan vorgelegt, wie ein solcher Wiederaufbau vonstattengehen könnte - auch ohne die Bevölkerung auszusiedeln.

    Das dürfte nicht so einfach sein.
    ASSEBURG: Die Hauptherausforderung ist, dass es eines langfristigen Waffenstillstands, einer Stabilisierung der Sicherheitssituation und einer politischen Perspektive bedarf, damit der Wiederaufbau überhaupt beginnen kann und Länder bereit sind zu investieren. Ohne die Einigung auf einen solchen politischen Rahmen - der festlegt, was mit der Hamas geschieht, wer künftig den Gazastreifen kontrolliert, wer für Sicherheit verantwortlich ist und wie der israelisch-palästinensische Konflikt insgesamt geregelt wird – ist nicht zu erwarten, dass die notwendige internationale Hilfe kommt. Zu oft schon ist wiederaufgebaut und dann wieder zerstört worden.

    Israel ist auch im Westjordanland militärisch sehr präsent. Welche Pläne verfolgt die Regierung von Benjamin Netanjahu dort? Oder laienhaft gefragt: Ist das Westjordanland als Nächstes dran?
    ASSEBURG: Seit Januar dieses Jahres hat Israel seine Militäroperation im Westjordanland ausgeweitet, mit der es gegen bewaffnete Gruppierungen vor allem in den nördlichen Flüchtlingslagern vorgeht. Verteidigungsminister Katz hat betont, dass man dabei die Lehren aus den Kampferfahrungen in Gaza anwenden wolle. In den ersten Wochen der Operation „Eiserne Mauer“ ist es zu massiven Zerstörungen von Infrastruktur und Häusern gekommen und es wurden bereits um die 40.000 Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben - die größte Vertreibungswelle im Westjordanland seit 1967. Dabei geht es aber nicht nur um Sicherheit: Die Regierung hat schon in ihren Leitlinien vom Dezember 2022 festgehalten, dass sie Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Jordanfluss und Mittelmeer erhebt. Finanzminister Bezalel Smotrich hat nach dem Wahlsieg Trumps verkündet, dass 2025 das Jahr der „Anwendung von Souveränität“ im Westjordanland sein soll. Es geht also um Annexion.

    Sie haben zusammen mit Ihrem Kollegen Peter Lintl ein Papier veröffentlicht, das den Titel „Israels radikale Regierung“ trägt. Darin stellen sie unter anderem einen Abbau der Gewaltenteilung, eine Übernahme des Staatsapparates sowie die Entmachtung von Justiz und Medien durch Benjamin Netanjahu und seine Getreuen fest. Das hört sich fast so an, als ob sich der Premier einige Dinge bei US-Präsident Donald Trump abgeschaut hat?
    ASSEBURG: Das Vorgehen folgt einem Skript, das diejenigen anwenden, die die Elemente liberaler Demokratie abbauen wollen. Dabei geht es immer darum, Kontrollmechanismen und Gegengewichte zu schwächen oder gleich ganz zu entfernen, die das Regierungshandeln einschränken - allen voran die Justiz, die Medien - und die den Staatsapparat auf Linie bringen. In der Regel geschieht das unter Berufung darauf, dass man den Volkswillen umsetzen wolle. Diesen Trend der „demokratischen Erosion“ sehen wir heute in Israel, in den USA, in Ungarn, in der Türkei und weiteren Ländern.

    Was folgt aus dem von Ihnen beschriebenen Vorgehen der Regierung Netanjahu für die deutsche Politik? Sollte Berlin schärfer reagieren oder verbietet sich das angesichts der Verantwortung unseres Landes?
    ASSEBURG: Meiner Ansicht nach muss es darum gehen, beiden Elementen der historischen Verantwortung nachzukommen, die Deutschland aufgrund des Holocaust und den deutschen Angriffskriegen des 20. Jahrhunderts hat: der Verantwortung für Jüdinnen und Juden weltweit und den Staat Israel auf der einen Seite und dem Einsatz für Menschenrechte und Völkerrecht auf der anderen Seite. Das heißt auch, dass Deutschland nicht einfach israelische Sicherheitskonzepte übernehmen darf, sondern selbst beurteilen muss, was Israels Sicherheit nutzt. Konkret bedeutet es, dass deutsche Politik sich für eine Konfliktregelung einsetzen sollte, die beiden Völkern ein Leben in Selbstbestimmung und Sicherheit ermöglicht. Und dass sie aktiv zur Einhaltung des Völkerrechts und Völkerstrafrechts beitragen sollte, nicht es unterlaufen sollte.

    Selbst langjährige Nahost-Korrespondenten verzweifeln bei dem Versucht, den Nahost-Konflikt in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Sie haben dazu mit dem Politikwissenschaftler Jan Busse ein Buch geschrieben, das ein kleiner Bestseller ist und inzwischen mehrfach aktualisiert wurde. Wollen Sie es mal versuchen: Der Nahost-Konflikt, erklärt in drei Sätzen?
    ASSEBURG: Der Kern des Nahostkonflikts oder israelisch-arabischen Konflikts ist der israelisch-palästinensische Territorialkonflikt. Im Grunde streiten sich jüdische Israelis und Palästinenserinnen und Palästinenser um das Gebiet zwischen Jordanfluss und Mittelmeer, das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina. Mit dem Scheitern des Oslo-Prozesses, bei dem sich PLO und Israel in den 1990er Jahren auf eine friedliche Konfliktregelung geeinigt hatten, ist der Streit wieder in einen existentiellen Konflikt um das gesamte Gebiet zurückgefallen.

    Die Nahost-Expertin der Stiftung Wissenschat und Politik, Muriel Asseburg.
    Die Nahost-Expertin der Stiftung Wissenschat und Politik, Muriel Asseburg. Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

    Zur Person

    Dr. Muriel Asseburg, Jahrgang 1968, ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie studierte Politikwissenschaft, Völkerrecht und Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo sie im Jahr 2000 promovierte. Sie lebte zwischenzeitlich unter anderem in Jerusalem, Damaskus, Ramallah und Beirut. Asseburg hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter zusammen mit Jan Busse „Der Nahostkonflikt“ (C.H.Beck Wissen), das die Vorgänge in Israel, Gaza und drumherum auch für Laien nachvollziehbar macht.

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    1 Kommentar
    Marianne Böhm

    Ich habe mir den Artikel durchgelesen und finde ihn nicht gut, nur die Fragen sondern auch die Antworten. Ich finde es auch sehe anmaßend Trump mit Netanjahu, der einem brutalen Krieg führt zu vergleichen. Wieviel Soldaten, Waffen hat Israel eigentlich bei 10 Millionen Einwohner, dass es so kämpfen kann. Ich möchte auch sagen dass ich als Deutsche dieses brutale Töten von Netanjahu , auch der Hamas, nicht über mein Unrechtsverständnis und menschliches, soziales Gewissen stellen kann. Man kann feststellen dass im 21 Jahrhundert Kriege nur noch reines Töten und die völlige Zerstörung des menschlichen Lebensraum sind. Wenn die Menschheit keinen Frieden erhalten kann, hat niemand aus der schlimmen Vergangenheit etwas gelernt. Keiner muss sich bewaffnen um in Frieden leben zu können, alles andere ist reinster Vorsatz. Unsere Existenz im religiösen oder gesetzlichen gesehen, ist das menschliche Leben das höchste Gut und höchste Recht, sonst ist alles nichts..!

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