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Norbert Lammert kritisiert die historische Unbedarftheit der Deutschen

Interview

Norbert Lammert: „Die Deutschen haben eine verhängnisvolle Tradition“

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    Auch Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert macht Donald Trump im Weißen Haus fassungslos. Doch die deutsche Öffentlichkeit habe Trumps Absichten lange verdrängt.
    Auch Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert macht Donald Trump im Weißen Haus fassungslos. Doch die deutsche Öffentlichkeit habe Trumps Absichten lange verdrängt.

    Herr Lammert, Sie gehörten von 1980 bis 2017 dem Bundestag an. Hat sich in Ihrem politischen Leben jemals innerhalb von so kurzer Zeit so viel verändert, wie wir es jetzt gerade erleben?

    Norbert Lammert: Solche Fragen sollten besser Historiker mit dem nötigen zeitlichen Abstand beantworten. Zumal wir ja erkennbar dazu neigen, große Veränderungen insbesondere mit spektakulären Ereignissen zu verbinden und weniger mit langfristigen Entwicklungen. Ein typisches Beispiel dafür ist die Verkündung der Zeitenwende 2022. Wenn man darunter den gewaltsamen Bruch mit einer vereinbarten europäischen Friedensordnung versteht, dann hat die ja nicht 2022 stattgefunden, sondern spätestens 2014.

    Sie meinen die Annexion der Krim?

    Lammert: Richtig. Das Ereignis war aber offenkundig nicht spektakulär genug, um als Zeitenwende wahrgenommen zu werden.

    Wie sehr erschüttert es Sie, wenn Sie eine Pressekonferenz wie die mit den Präsidenten Trump und Selenskyj sehen?

    Lammert: In meiner Wahrnehmung findet im Augenblick gewissermaßen die andere Seite der Zeitenwende statt: Der Präsident der westlichen Führungsmacht verabschiedet sich demonstrativ von der regelbasierten internationalen Ordnung. Der Vorgang im Weißen Haus macht mich vor diesem Hintergrund fassungslos, aber es überrascht mich nicht mehr. Mich überrascht eher, wie viele immer noch überrascht sind. Im Oval Office sitzt ja nicht ein Neuling, sondern ein Präsident, der in seiner ersten Amtszeit zunehmend die Erwartungen begründet hat, die er jetzt der Reihe nach einlöst.

    US-Präsident Donald Trump brüskierte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei dessen jüngsten Besuch im Oval Office des Weißen Hauses. Trump besichtigte Selenskyj, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren.
    US-Präsident Donald Trump brüskierte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei dessen jüngsten Besuch im Oval Office des Weißen Hauses. Trump besichtigte Selenskyj, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren. Foto: Mystyslav Chernov, AP, dpa

    Die Trump’sche Wucht indes mag noch überraschen?

    Lammert: Ich stehe ratlos vor dem Umstand, dass die Europäer und insbesondere die Deutschen eine verhängnisvolle Tradition haben, unmissverständliche Ankündigungen, die für unerfreulich gehalten werden, auch so lange für unzutreffend zu halten, bis sie eingetreten sind. Das hat schon mal zum Niedergang der ersten deutschen Demokratie beigetragen. Und dass Trump nun irgendetwas tut, was er vorher nicht angekündigt hat, kann man eben leider nicht sagen. Für Putins Ankündigung, das zerfallene sowjetische Imperium wiederherzustellen, gilt dasselbe. Es war eine unmissverständliche Ankündigung. Er hat sie mehrfach wiederholt. Wahrgenommen wurde sie erst, als er sie umgesetzt hat.

    Für billige Energie sorgte Russland, die Amerikaner haben die Verteidigung bezahlt. Wie kam es dazu, dass sich unser Land so gemütlich eingerichtet hat?

    Lammert: Die Aufrechterhaltung dieser Versuchsanordnung war um Längen bequemer als ihre gründliche Veränderung. Die Erwartung, dass unsere Sicherheit nicht von uns selbst, sondern von den Amerikanern zu sichern sei, ist natürlich bequemer als die eigene Verantwortung. Und die Verlängerung von Lieferbeziehungen für billiges Öl und Gas ist natürlich bequemer als die Aufgabe der zugrunde liegenden Verträge. Das war übrigens nicht nur Deutschland allein. Die westliche Demokratiefamilie war beinahe komplett beteiligt, und so konnte man sich in der wechselseitigen Verdrängung unerfreulicher Realitäten jedenfalls in einer Gemeinschaft fühlen.

    Leitet sich daraus die Lehre ab, dass Politik in der Demokratie nur dann reagieren kann, wenn die Probleme im Land groß sind?

    Lammert: Zu den unangenehmen Einsichten gehört, dass es kaum gelingt, Wählermehrheiten für die Aufgabe vertrauter Positionen zu gewinnen, wenn eine veränderte Lage nicht offensichtlich dazu zwingt. Aber ich würde schon gerne daran erinnern, dass die großen Richtungsentscheidungen dieser Republik nach dem Zweiten Weltkrieg allesamt erst mehrheitsfähig gemacht werden mussten. Sie hatten nicht von vornherein den Rückenwind einer öffentlichen Mehrheit hinter sich. Beginnend von der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft über die Wiederbewaffnung, die Gründung der Bundeswehr und die Einführung der Wehrpflicht bis hin zur Einführung des Euro. Nichts von dem konnte auf eine vorgefundene mehrheitliche Zustimmung setzen. Aber es ist der Politik in all diesen Fällen gelungen, die Mehrheit herzustellen und aufrechtzuerhalten. Vor einer ähnlichen Aufgabe steht sie jetzt wieder.

    Rückblick: Parlamentspräsident Lammert nimmt Bundeskanzlerin Angela Merkel (beide CDU) im Jahr 2013 den Amtseid ab. Lammert stand 12 Jahre an der Spitze des Bundestages.
    Rückblick: Parlamentspräsident Lammert nimmt Bundeskanzlerin Angela Merkel (beide CDU) im Jahr 2013 den Amtseid ab. Lammert stand 12 Jahre an der Spitze des Bundestages. Foto: Hannibal Hanschke, dpa (Archiv)

    Allerdings haben wir jetzt eine AfD, die das Sammelbecken derer sein könnte, die an ihrer Bequemlichkeit festhalten wollen. Welche Rolle spielt das in der Entscheidungsfindung?

    Lammert: Durch die Kombination von Mandaten auf der rechten wie der linken Seite des Parlaments können sich zusätzliche Hürden ergeben. Aber es wäre eine verheerend falsche Schlussfolgerung, wenn man sich deswegen von notwendigen Veränderungen verabschieden wollte, die wir im Übrigen ja innen wie außen brauchen. Wir stehen vor der doppelten Herausforderung, unsere Rolle in Europa und der Welt neu definieren zu müssen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wieder herzustellen. Und das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden. Und es gibt leider wieder nicht die bequemere Variante.

    Wie fällt Ihr Befund diesbezüglich gerade aus?

    Lammert: Ich finde es, um mal was Freundliches zu sagen, ermutigend, wie schnell und nüchtern sich die potenziellen künftigen Koalitionäre mit der neuen Lage vertraut machen, um daraus schnell gemeinsame Schlussfolgerungen herzuleiten. Das hätte – wie in manchen Nachbarstaaten – auch ganz anders sein können.

    Macht es aus Ihrer Sicht Sinn, ein Sondervermögen noch im alten Parlament zu beschließen? Oder ist das eine Aufgabe, die man allein aus Respekt dem neuen Bundestag zubilligen muss?

    Lammert: An der im Augenblick verhandelten Lösung führt wohl kein Weg vorbei. Es gehört allerdings nicht viel Mut zu der Prognose, dass die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens am Ende wieder in Karlsruhe landen wird.

    Sie gehen viel in Schulklassen. Welche Rolle spielt das Thema Krieg und Frieden für Schülerinnen und Schüler?

    Lammert: Dass das jetzt ein Lieblingsthema wäre, das sie auf dem Schulhof pausenlos diskutieren, ist vielleicht ein bisschen arg viel verlangt. Aber ich kann nicht erkennen, dass es eine Verweigerung gäbe, sich mit diesen eher unangenehmen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Beispielsweise bei der Frage, ob es eine Wehrpflicht für alle geben soll.

    Was ist Ihre Meinung dazu?

    Lammert: Ich finde den Ansatz der Union klug, die Wehrpflichtdebatte in den Kontext allgemeiner sozialer Dienste zu stellen.

    Reicht das in diesen Zeiten noch aus oder muss es nicht doch wieder mehr Zwang geben, um auf die notwendige Zahl an Soldatinnen und Soldaten zu kommen?

    Lammert: Dafür wäre eine Verfassungsänderung notwendig, und es ist ziemlich offensichtlich, dass der gerade gewählte Bundestag für eine solche Verfassungsänderung schwerlich zu gewinnen sein wird. Und dann blieben wiederum zwei Varianten: Die eine wäre, gar nichts zu machen. Die Alternative ist eine Lösung, die genügend Anreize gibt, sich selbst für eine gewisse Zeit in den Dienst für die Allgemeinheit zu stellen.

    Im Wahlkampf spielte das Thema Migration eine große Rolle. Friedrich Merz nahm für schärfere Asylregeln die Zustimmung der AfD im Bundestag in Kauf, was als historische Zäsur wahrgenommen wurde. Wie schwer ist es aus Ihrer Sicht, das C im Parteinamen, das Christliche, mit einer notwendigen Ordnung zusammenzubringen?

    Lammert: Ich denke nicht, dass wir uns zwischen dem einen und dem anderen entscheiden müssen. Aber es muss immer wieder neu eine Balance gesucht werden, und hier haben wir einen Nachholbedarf an Justierung. Wir kommen an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Je größer die Zahl derjenigen ist, die mit ihren eigenen Lebensumständen nicht zurechtkommen, desto größer wird der Bedarf an assistierenden Rahmenbedingungen. Deswegen besteht ein Zusammenhang zwischen der zahlenmäßigen Limitierung und der Beherrschbarkeit einer Lage.

    Wäre eine Zurückweisung an den Grenzen, wie Merz sie fordert, zu viel Ordnung und zu wenig Humanität?

    Lammert: Eine dauerhafte Schließung als Voraussetzung für die konsequente Zurückweisung aller unbegründeten Einreisebegehren würde eine der größten Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses pulverisieren, nämlich die, dass es in Europa keine Grenzen geben soll. Insofern ist es eine ärgerliche, aber unvermeidliche Begleiterscheinung der Herausforderung, vor der wir stehen, dass wir hier Abstriche von einer Vereinbarung machen müssen, die wir aber im Prinzip unbedingt aufrechterhalten wollen. Es geht auch hier wieder um die Dosierung.

    Die Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet kommende Woche zum dritten Mal das Cafe Kyiv mit mehreren tausend Teilnehmern, darunter viele aus der Ukraine. Müssen Sie Ihre Eröffnungsrede angesichts der schnellen Abfolge neuer Ereignisse gerade ständig umschreiben?

    Lammert: Bei Begrüßungen zu unseren Veranstaltungen ist mir immer noch was eingefallen. In diesem Falle ist es leider eher einfacher als sonst, weil sich die Situation gegenüber der gleichen Veranstaltung vor einem Jahr deutlich verändert hat. Ich finde es aber beeindruckend, wie groß die Sensibilität für dieses Thema geblieben ist. Oft gewöhnt man sich sehr schnell an neue Problemlagen und geht zur Tagesordnung über. Hier nicht. Die Sensibilität für dieses Thema ist erstaunlich hoch. Und das ist eine ermutigende Rückmeldung.

    Zur Person: Norbert Lammert ist der Vorsitzende der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Davor war der Bochumer zwölf Jahre Präsident des Deutschen Bundestages, dem er seit 1980 als Abgeordneter für die CDU angehörte. Der 76-Jährige ist verheiratet und hat mit seiner Frau vier Kinder.

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    1 Kommentar
    Raimund Kamm

    >>Und dass Trump nun irgendetwas tut, was er vorher nicht angekündigt hat, kann man eben leider nicht sagen. Für Putins Ankündigung, das zerfallene sowjetische Imperium wiederherzustellen, gilt dasselbe. Es war eine unmissverständliche Ankündigung. Er hat sie mehrfach wiederholt. Wahrgenommen wurde sie erst, als er sie umgesetzt hat. << Für wahrwahr! Es waren gaswollende CSU-, CDU und SPD-Politiker, die vor Putins Imperialismus die Augen geschlossen haben. Dass der Imperialist Trump von den USA geschlossene völkerechtlich verbindliche Verträge bricht, akzeptiert heute nur noch die AFD. Raimund Kamm

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