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Foto: Herbert Neubauer
Foto: Herbert Neubauer

Bis vor einem Jahr war Sebastian Kurz Kanzler in Österreich. Nun wird eine Anklage gegen den gefallenen ÖVP-Star immer wahrscheinlicher.

ÖVP
26.10.2022

Wie korrupt war das System Sebastian Kurz in Österreich?

Von Werner Reisinger

Plus Er war der jüngste Regierungschef weltweit. Jetzt wird es für den Ex-Kanzler eng, weil ihn ein Vertrauter schwer belastet. Die neue Regierung sitzt die Affären aus.

So hatte sich das Sebastian Kurz gewiss nicht vorgestellt. Wie man es von ihm gewohnt ist, hatte er alles akribisch vorbereitet, es sollte ein großer Auftritt werden. Kurz, der bis vor einem Jahr Kanzler in Österreich war, wollte reden. Nicht über sein neues Leben nach der Politik. Nicht über seinen neuen Job oder darüber, dass er, seit Sohn Konstantin auf der Welt ist, natürlich auch mal Windeln wechselt, wie er es zuletzt in Interviews erzählt hat.

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Nein, der gescheiterte Hoffnungsträger der konservativen ÖVP wollte aus dem Nähkästchen plaudern – über die Koalition seiner ÖVP mit den rechten Freiheitlichen und über sein politisches Ende im Zuge der sogenannten Inseraten-Affäre, die ihn letztlich das Amt gekostet hat. Mit der Journalistin Conny Bischofberger vom Boulevardblatt Kronen Zeitung hat Kurz ein 240 Seiten starkes Buch geschrieben, es trägt den Titel „Reden wir über Politik“. Und rund um den Erscheinungstermin Mitte Oktober lächelte Kurz wie in alten Tagen von sämtlichen Online-Auftritten der großen und kleinen Zeitungen im Nachbarland.

Er lässt sich als „größtes politisches Talent seit Bruno Kreisky“ beschreiben

Die massiven Korruptionsvorwürfe, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn und zahlreiche weitere enge Mitstreiter der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), das sei ihm während seiner aktiven Zeit etwas lästig gewesen, sagte Kurz sinngemäß in den Interviews. Heute aber, in seiner neuen Karriere in der Privatwirtschaft, als Mitarbeiter des für seine demokratiefeindlichen Visionen bekannten US-Investors Peter Thiel, spiele das alles gar keine Rolle mehr. Alles in bester Ordnung also, beim ehemaligen „größten politischen Talent seit Bruno Kreisky“, wie Kurz sich gerne beschreiben hatte lassen.

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Foto: Roland Schlager, APA/dpa
Foto: Roland Schlager, APA/dpa

Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz ist durch Aussagen eines Insiders erneut schwer belastet worden. Es geht um den Vorwurf der Korruption.

Doch aus der Nabelschau des Ex-Kanzlers wurde nichts. Die Schlagzeilen dominierte nur Tage nach Kurz’ Auftritt einer, der über all die Jahre treu an dessen Seite gekämpft hatte: Thomas Schmid, der ehemalige Generalsekretär im Finanzministerium und wie Kurz einer der Hauptbeschuldigten im wohl größten Korruptionsermittlungsverfahren gegen Ex-Regierungspolitiker der letzten Jahrzehnte.

Ohne dass die Öffentlichkeit Wind davon bekommen hatte, hatte Schmid über Monate hinweg mit den Ermittlern der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft kooperiert. Sein Ziel: Er wollte Kronzeugenstatus und damit weitestgehend Straffreiheit erlangen. Das bekommt von der österreichischen Justiz nur, wer reumütig seine Vergehen gesteht und durch Aussagen wesentlich zur Aufklärung von Verbrechen beiträgt.

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Genau das hatte Schmid vor: 15 Vernehmungstage packte Kurz’ ehemaliger Gefolgsmann seit April vor den Ermittlern aus, 484 Seiten umfasst das Einvernahme-Protokoll der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, das unserer Redaktion vorliegt.

Thomas Schmid bestätigt darin weitestgehend das, was die Staatsanwälte aufgrund der zigtausenden beschlagnahmten Chatnachrichten von Schmids Mobiltelefon kannten und zur Basis ihres Verdachts und ihrer Ermittlungen gemacht hatten: Dass Kurz und seine Getreuen einen Tatplan konstruiert haben sollen, zur Übernahme zuerst der ÖVP und dann der Macht in der Alpenrepublik – und zwar mittels Steuergeld, mit dem manipulierte Umfragen in Auftrag gegeben und in der Boulevard-Zeitung Österreich des Verlegers Wolfgang Fellner platziert worden sein sollen. Budgetmittel des Finanzministeriums, über die Schmid damals verfügte, sollen herangezogen worden sein, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und so Kurz’ fulminanten Aufstieg zu ermöglichen. Als Gegenleistung, so der Vorwurf der Ermittler, den Schmids Aussagen nun stützen, soll das Finanzministerium in Fellners Zeitung Inserate für hunderttausende Euro geschaltet haben. Von all dem, das hatte Sebastian Kurz in den vergangenen Monaten immer wieder betont, habe er nichts gewusst.

Konnte Kurz die redaktionelle Berichterstattung der Zeitung steuern?

Schmid belastet seinen ehemaligen Förderer nun schwer. Er sei von Kurz persönlich dazu ermutigt worden, das System der Inseraten-Korruption zu entwickeln und abzuwickeln. Dass dieses aus öffentlichen Mitteln finanziert werden solle, sei für Kurz klar gewesen. Sein Pressesprecher und weitere engste Mitarbeiter seien in das nach einer Meinungsforscherin benannte „Beinschab-Tool“ nicht nur von Anfang an eingeweiht gewesen, sondern hätten Inhalte und „Ergebnisse“ der Umfragen bestimmt. Besagte Inserate in der Österreich-Zeitung seien auch später, als der ÖVP-Chef längst im Kanzleramt war, „auf Kurz zu buchen“ gewesen. Das bedeutet, dass Kurz’ Team die redaktionelle Berichterstattung über den Kanzler in der Zeitung habe steuern können. Damit nicht genug: Kurz habe ihn schon vor den Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt im Oktober vergangenen Jahres dazu gedrängt, ihm die besagten Handy-Chats zu übergeben. Bei diesem letzten Zusammentreffen mit Kurz habe er gemerkt „dass der spinnt“, sagte Schmid: Kurz habe sich um die Chats „selber kümmern wollen“, da sonst „die ÖVP und das ganze Land den Bach heruntergeht“.

Später, nach den Hausdurchsuchungen, habe Kurz Schmid dazu gedrängt, die Schuld auf sich zu nehmen, sagte Schmid den Ermittlern: „Ich müsse jetzt eine schriftliche Stellungnahme abgeben, wonach er (Kurz) nichts von all diesen Vorwürfen wisse“, das habe Kurz ihm am Telefon aufgetragen.

Vorwurf: ÖVP-nahe Vereine sollen bei der Steuerprüfung bevorzugt behandelt worden sein

Schmid sagte zudem umfassend über weitere ÖVP-Politiker, wie etwa den Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka aus. Dieser solle erreicht haben, dass ÖVP-nahe Vereine bei Steuerprüfungen bevorzugt behandelt wurden. Um Steuerangelegenheiten geht es auch beim Millionär und Immobilienunternehmer René Benko – auch er ein Vertrauter von Sebastian Kurz. Eine Anklage gegen den gefallenen ÖVP-Star wird nun immer wahrscheinlicher.

Seit Tagen dominiert nun eine wahre Schlammschlacht zwischen den Anwälten von Kurz und Schmid die Schlagzeilen. Nach den Schmid-Enthüllungen legte Werner Suppan, der den Ex-Kanzler vertritt, eine Ton-Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Kurz und Schmid vor, das wiederum seinen Mandanten entlasten soll. Gemeinsam klagten die beiden darin über die Staatsanwaltschaft, die sich etwas „zusammenreimen“ würde. Demnach soll Schmid zugegeben haben, dass Kurz nicht in die Entstehung des „Beinschab-Tools“ involviert gewesen sei. Zahlreiche Beobachter vermuten bei dem Tonband aber ein abgekartetes Spiel – oder gehen davon aus, dass beide Seiten davon ausgingen, dass das Gespräch aufgezeichnet werde, zur späteren Verwendung.

Hat sich das Land von Sebastian Kurz blenden lassen?

Auch Helmut Brandstätter hält Kurz’ Verteidigungsstrategie für wenig glaubhaft. Der ehemalige Chefredakteur des Kurier und jetzige Abgeordnete der liberalen Neos und vehementer Kritiker des „Systems Kurz“ hat seinerseits ein Buch veröffentlicht: In „Heilung für eine verstörte Republik“ geht er der Frage nach, wie die Österreicher zum wiederholten Male auf „einen Blender und Selbstdarsteller“ hereinfallen konnten – und was seiner Meinung nach notwendig wäre, um das zutiefst erschütterte Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Brandstätter betont, dass Schmid mit seinem Geständnis ein großes Risiko eingehe: Würden sich seine Aussagen als falsch herausstellen, habe er nicht nur die Chance auf den Kronzeugenstatus verspielt, sondern würde sich als nach wie vor Beschuldigter im kommenden Verfahren selbst schwer belasten. Und: Sebastian Kurz sei davon ausgegangen, dass Schmid irgendwann auspacken würde – auch deshalb habe der Ex-Kanzler Gespräche wie das besagte aufgezeichnet. „In dem Moment, wo Kurz Schmid fallen lassen hat, ist er vom Freund zum Feind gewechselt“, sagt Brandstätter. „Daran sieht man nicht nur, wie toxisch, sondern vor allem wie undemokratisch und rechtsstaatsfeindlich das ,System Kurz‘ aufgebaut worden ist.“

Auch im erweiterten Umfeld des ehemaligen „Systems Kurz“ rücken nun Ex-Vertraute und Sympathisanten aus, um ihre Versionen der Vorgänge zu schildern oder alte Rechnungen zu begleichen. Täglich tauchen neue Details auf, die ehemals so geschlossene Phalanx der „türkisen“ ÖVP zerbricht, die „Familie“, wie die Kurz-Clique sich selbst nannte, zerfleischt sich.

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Foto: Martin Juen, Imago
Foto: Martin Juen, Imago

Karl Nehammer versucht den Spagat: Er möchte Österreich als neutralen Vermittler im Krieg zwischen Russland und der Ukraine einsetzen. Zugleich muss er die EU-Sanktionen mittragen.

Einen scheint all dies kaum zu berühren: Österreichs Kanzler Karl Nehammer versucht nach dem Motto „weiter wie bisher“, die Affären auszusitzen. Der Kurz-Nachfolger im Kanzleramt habe „das Land durch die Krise zu führen“, ließ er wissen – Nehammer und andere ÖVP-Regierungsmitglieder verweisen darauf, dass das „türkise“ Personal ohnehin längst aus der Politik ausgeschieden sei. So argumentieren auch die Grünen, die keinen Gedanken darauf verschwenden, der Neuwahl-Forderung der Oppositionsparteien nachzugeben. Stattdessen übt sich die Regierung aus ÖVP und Grünen in Schadensbegrenzung. Unter dem Druck der Ereignisse soll nun endlich Bewegung in die Ankündigungen der Koalition kommen, derartig ausufernde Korruption in Österreich künftig zumindest zu erschweren: Schon 2020 hatte der grüne Vizekanzler Werner Kogler „mit Ende des Jahres“ ein „Ibiza-Paket“ angekündigt, das neue Antikorruptionsbestimmungen ebenso beinhalten sollte wie Nachschärfungen bei der Parteienfinanzierung und der Inseratenvergabe durch die öffentliche Hand. Nach wie vor harren aber wesentliche Gesetzesvorhaben ihrer Umsetzung.

Vor der nächsten Wahl 2024 dürfte die ÖVP keine weiteren personellen Änderungen vornehmen

Und die skandalgebeutelte ÖVP selbst? Ein parteiinterner „Ethik-Rat“ soll sich im November mit den Schmid-Aussagen beschäftigen. Man habe allerdings nur „beratende Funktion für die Parteiführung“, beeilte man sich vorab klarzustellen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Parteiführung um Karl Nehammer noch vor dem geplanten Wahltermin im Herbst 2024 weitere personelle Konsequenzen ziehen wird.

Dass die scheinbar unendliche Korruptionsgeschichte rund um den ehemaligen ÖVP-Star Sebastian Kurz so schnell nicht zu Ende gehen wird, ist gewiss: Am 3. November wird Thomas Schmid vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuss treten. Ob dabei sein ehemaliger Parteifreund Wolfgang Sobotka als Nationalratspräsident den Vorsitz bei der Befragung führen wird, ist offen – ebenso wie die Zukunft von Sebastian Kurz selbst.

Dessen Buch „Reden wir über Politik“ sei ja nur eine „Zwischenaufnahme“, wie Co-Autorin Bischofberger feststellte. Die endgültige Bilanz der Ära Kurz werden andere schreiben – nachdem die Gerichte gesprochen haben.

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