"Die allermeisten außerhalb der SPD interessieren sich nämlich nicht für unseren innerparteilichen Streit, für unsere Personaldebatten oder für unsere Flügel", sagte er am Freitag in einer immer wieder von Beifall unterbrochenen Grundsatzrede beim SPD-Bundesparteitag in Dresden. "Aber sie haben ein sehr deutliches Gespür dafür, ob wir das, was wir über eine tolerante, weltoffene und solidarische Gesellschaft erzählen, auch selbst vorleben."
Gabriel sollte noch am Abend zum Nachfolger von Franz Müntefering als SPD-Vorsitzender gewählt werden. Er sprach den rund 500 Delegierten Mut zu: "Die SPD hat in ihrer Geschichte schlimmere Krisen durchlebt als jetzt." Die SPD müsse die Deutungshoheit wiedererlangen. Nur wer die Deutungshoheit im Lande habe, habe die politische Mitte gewonnen. Die Mitte sei nie ein "fester Ort" gewesen und auch nicht an bestimmte Gruppen oder Parteien gebunden. Sie müsse immer wieder erkämpft und erobert werden.
Der SPD-Politiker rief seine Partei auf, spätestens in zwölf Monaten Antworten auf die jetzt aufgeworfenen Fragen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik - darunter die Rente mit 67 und Leiharbeit - zu geben. Er griff die schwarz-gelbe Bundesregierung scharf an und bezeichnete sie als "Klientel-Koalition".
Gabriel forderte eine umfassende Aufarbeitung des Wahldebakels vom 27. September, warnte seine Partei aber davor, "sich über die Wahlanalyse weiter innerparteilich zu zerlegen". Überprüfen heiße, zu sehen, was in den elf Jahren Regierungszeit gut und was falsch gelaufen sei. Und es sei nicht alles schlecht gewesen. Es gebe vieles, "auf das wir nach wie vor stolz sein können". Gabriel übernahm die Mitverantwortung für das 23-Prozent-Debakel der SPD bei der Bundestagswahl. "Ich fühle mich verantwortlich für alles, was wir in den letzten Jahren gemacht haben."
Der designierte Parteichef betonte den eigenständigen Kurs seiner Partei. Die deutsche Sozialdemokratie definiere sich weder in Abgrenzung noch in Ableitung von anderen Parteien. Mit Blick auf die Linkspartei betonte er: "Es gibt für mich keinen Grund, Koalitionen prinzipiell auszuschließen. Aber es gibt auch keinen Grund, sie prinzipiell immer zu schließen."
Zuvor hatten die Delegierten wegen der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl mit der Parteiführung abgerechnet. Der bisherige Vorsitzende Franz Müntefering räumte eine Mitschuld der Parteispitze am Wahldebakel vom 27. September ein. In seiner einstündigen Abschiedsrede rief der 69-Jährige seine Partei zu Selbstbewusstsein auf: "Wir sind kampffähig. Wir sind kampfbereit. Wir kommen wieder." Müntefering: "Die SPD ist kleiner geworden, aber die sozialdemokratische Idee nicht. Schon gar nicht ist sie am Ende."
In der Aussprache mit mehr als 50 Wortmeldungen gab es kaum persönliche Vorhaltungen an Müntefering. Allerdings hätte man sich von ihm mehr Selbstkritik erwartet, wurde betont. Viele Delegierte vor allem vom linken Flügel kritisierten den sozialpolitischen Kurs der SPD in der elfjährigen Regierungszeit. "Es gab niemals eine Mehrheit für Hartz IV, für die Rente mit 67 und eine Bahnprivatisierung", sagte der bayerische Delegierte Harald Unfried. Zahlreiche Redner setzten sich für ein schärferes linkes Profil ein. Der Parteilinke Ottmar Schreiner und die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel verlangten die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Auch während der SPD-Regierungszeit seien die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden, sagte Vorstandsmitglied Niels Annen.