Selenskyjs Zorn und Deutschlands Blamage

18.03.2022

Wolodymyr Selenskyj hat dem Bundestag ins Gewissen geredet. Das Parlament geht danach zur Tagesordnung über. Die politische Klasse Deutschlands hat sich blamiert.

Wenn die Ukrainer noch einer Bestätigung für ihre Enttäuschung über Deutschland bedurften, dann haben sie diese am Donnerstag im Bundestag bekommen. Ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte den Abgeordneten und der Bundesregierung geschildert, was Krieg ist. Tote Körper, Flucht, Schmerz, Angst und Beklemmung. Dieser Schrecken war bisher weit weg. Krieg war in Afghanistan, Syrien, im Irak. Jetzt ist er in Europa.

Selenskyj hatte den Politikern des mächtigsten Landes der Europäischen Union ins Gewissen redet. Er hatte versucht, sie bei ihren Werten zu packen, und sie dabei auch hart kritisiert. Doch nach dieser historischen Bitte um Beistand ging das Parlament nach einem kurzen Aufflackern des Anstandes einfach zur Tagesordnung über, als sei nichts gewesen.

Nach Applaus für Selenskyj geht der Bundestag zur Tagesordnung über

Es wurde sich zum Geburtstag gratuliert, danach über die Impfpflicht gestritten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hielt es nicht für nötig, auf Selenskyj zu antworten, der eine weitere Bombennacht hinter sich hatte. Weniger Taktgefühl, weniger Empathie, weniger Sinn für Symbole kann man nicht haben. Es wäre so wichtig gewesen, weil der Kanzler Selenskyj nicht geben kann, was er will. Deutschland kann dieses Jahr noch nicht auf russisches Gas verzichten, weil es sonst in eine schwere Wirtschaftskrise bei gleichzeitig grassierender Inflation fällt.

Eine Flugverbotszone kann die Nato nicht riskieren, weil sonst ein Atomkrieg droht, denn Putin steht mit dem Rücken zu Wand. Es rächt sich jetzt, dass Deutschland seine Sicherheit in die Hände der USA, seine Energieversorgung in die Hände Russlands und sein Exportwachstum in die Hände Chinas gegeben hat. Diese Abhängigkeiten zu lösen, wird Jahre dauern.

Das ist die eigentliche Zeitenwende, die auf Deutschland zukommen. 100 Milliarden für die Bundeswehr sind nur ihr bescheidener Anfang. Für die Ukrainer ist diese Erkenntnis ernüchternd und enttäuschend. Sie müssen weiter alleine kämpfen und werden durch russische Bomben aus der Luft sterben. Umso wichtiger sind die kraftvollen Symbole, die zumindest ihren Widerstandswillen mit neuen Funken nähren. Die politische Klasse Deutschlands hat sich am Donnerstag blamiert.