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Foto: Artyom Geodakyan, Imago
Foto: Artyom Geodakyan, Imago

September 2022: Kinder in einer Moskauer Schule werden militärisch mit der russischen Fahne gedrillt.

Russland
02.01.2023

Wie Russland Kinder zu Schulsoldaten macht

Von Inna Hartwich

Plus Der Kreml schwört Schulen in Russland mit Propaganda-Programmen immer stärker auf antiwestliche Ideologien ein. Wer kritisiert, bekommt es mit der Polizei zu tun.

„Hallo Soldat, mein Name ist Wika“, schreibt eine Achtjährige in geschwungener Krakelschrift in ihr liniertes Heft. Wika befolgt, was ihre Schule in der Region Irkutsk als Hausaufgabe aufgegeben hat – einen Brief an die Front schreiben. Das sogenannte Aufklärungsministerium, wie das Bildungsministerium in Russland heißt, hatte bereits im März seinen Bildungseinrichtungen "empfohlen", sie mögen den Geist der Armee mit patriotischen Aktionen in Kindergärten und Schulen stärken. Zum Neujahr, Russlands wichtigstem Familienfeiertag, sollten sich die Kinder im Land von den Soldaten „Frieden“ wünschen. Doch dass damit in Wahrheit Wladimir Putins Krieg gemeint ist, wird in staatlichen russischen Schulen kaum in Frage gestellt.

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Wika schreibt: „Da ich schon lesen kann, weiß ich aus dem Internet, welche wichtige Aufgabe du, mein lieber Soldat, zu erfüllen hast. Du bist unser Verteidiger! Ich bin stolz auf dich.“ Dazu gibt es Kästchen, in die Wörter wie „Vaterland“, „Sieger“ und „Russland“ geschrieben werden sollen.

Russische Kinder müssen in der Schule Soldaten Briefe schreiben

Der Bürgermeister aus Wikas Heimatstadt Tscheremchowo präsentiert voller Begeisterung die Briefe der Kinder, sagt, wie verständnisvoll doch die Kleinen mit der Lage, in der sich Russland derzeit befinde, umgingen. Unter welchem ideologischen Zwang die Kinder solche Zeilen verfassen, sagt der Bürgermeister nicht. 

Regionalsender bringen Reportagen aus den Schulen, wo Kinder teilweise weinen, weil ihre Väter eingezogen worden sind. Die Stimme aus dem Off sagt dazu trocken: „Auch manche Jungen reagieren emotional, aber sie werden bald lernen, dass die Verteidigung der Heimat die wichtigste Aufgabe im Leben eines Mannes ist, und diese Aufgabe später selbst übernehmen.“

Russische Erzieherinnen lassen Kleinkinder in Z-Formation auftreten

Manche Erzieherinnen lassen Kleinkinder in Z-Formationen marschieren und veröffentlichen die Videos in den sozialen Netzwerken. Das militärische Symbol Z ist inzwischen ein ideologisches Zeichen des Ukraine-Überfalls der russischen Armee, den Buchstaben gibt es im kyrillischen Alphabet nicht. Lehrerinnen teilen Vorlagen für Soldatenbriefe aus und lassen ältere Schüler Gedichte schreiben, in denen sie der Armee huldigen. 

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Seit Russland Krieg in der Ukraine führt, den es „militärische Spezialoperation“ nennt, versucht der Kreml, auch den Bildungssektor mit Propaganda in den Kriegsdienst zu stellen. Die Indoktrinierung fängt bereits im Kindergarten an. Wer kritisiert – ob Eltern, Lehrer, Schüler – lebt in einem System der Überwachung und Bestrafung ein immer gefährlicheres Leben. Lehrer, die sich weigern, sogenannte „Gespräche über Wichtiges“ zu veranstalten, eine Art Klassenstunde im Patriotismus-Format, verlieren unter fadenscheinigen Gründen die Stelle. Manche Schulen kämpfen inzwischen gegen Lehrermangel, weil männliche Kollegen mit der Ausrufung der Mobilisierung eingezogen worden sind, andere, weil sie vor einer Einberufung ins Exil flüchteten.

Russische Polizei holt zehnjähriges Schulmädchen aus Unterricht

Manchmal holt die Polizei selbst Grundschülerinnen und -schüler aus dem Klassenraum ab, weil die Schule die Kinder denunziert hat. Ein Fall ereignete sich kürzlich an einer Schule im Südosten Moskaus. Ein zehnjähriges Mädchen soll in einem Klassenchat ukrainische Symbolik verwendet haben und über Krieg und Frieden diskutiert haben wollen, wie die Schule berichtete. Die Polizisten holten das Kind aus dem Unterricht ab. Mehrere Beamte fragten es über dessen Freizeitgestaltung und den Beruf der Mutter aus. Die Schulleiterin hatte die Mutter nicht informiert, sondern den Behörden geschrieben, die Mutter „beeinflusse das Kind falsch“.

Zudem habe die Mutter ihre Tochter aus den sogenannten „Gesprächen über Wichtiges“ – der Kriegspropaganda – befreien wollen . Dabei lernen Erstklässler sowjetische Kriegslieder, Drittklässler werden gelehrt, dass es kaum etwas Wichtigeres gebe, als für die Heimat zu sterben. Zehntklässler werden unterrichtet, dass die „Spezialoperation“ eine vom Westen aufgezwungene Notwendigkeit sei. An sich ist das Fernbleiben aus dem Unterricht möglich, weil die Stunde als Wahlfach gedacht ist. Manche Schulleiter erklären die Stunde jedoch zur Pflicht.

Der Druck der Schulen ist so groß, dass nicht alle Eltern den Weg des Widerstandes zu gehen bereit sind. Sie wollen den Schulalltag ihrer Kinder nicht gefährden. Die Mutter der Zehnjährigen verweigerte die Unterrichtsteilnahme für ihre Tochter – und fand ihr Kind auf der Polizeiwache wieder. Nun steht die ganze Familie unter Aufsicht des Jugendamtes und muss sich einer sogenannten „sozialen Betreuung“ der Behörde unterziehen. Dabei erklären staatliche Angestellte den Eltern, welche „Pflichten“ sie für die „richtige geistige, psychische und moralische Entwicklung“ ihrer Kinder erfüllen müssten. Ein Einzelfall sind solche Maßnahmen nicht. 

In Russland ist Propaganda an Schulen eigentlich verboten

Laut russischer Verfassung ist politische Einflussnahme an Schulen offiziell verboten. Doch die Gesetze legen die Ministerien nach eigenem Gutdünken aus. In den Geschichtsbüchern für die zehnte Klasse wird den Jugendlichen über die „Wiedergeburt Russlands“ erzählt und die „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“ gelehrt. In Klassenstunden sprechen Lehrer über eine „notwendige Vernichtung der Nazis in der Ukraine“ und erzählen, die gegenwärtige „Krise“ bringe „Russland nur Gutes“.

Den Schuldirektoren steht – wie zu Sowjetzeiten – ein Berater für ideologische Erziehungsarbeit zur Seite. Auch beim sogenannten JeGE, dem russischen Abitur, soll in diesem Schuljahr das Wissen über die „Spezialoperation“ abgefragt werden. Ab Januar sollen auch die Kindergärten des Landes ein neues Bildungsprogramm bekommen. Damit will das Ministerium einen „einzigen Bildungsraum“ erschaffen, in dem die „nationale Färbung und die moralischen und spirituellen Werte Russlands“ gelehrt werden sollen.

Damit verschwinde die Vielfalt der Einrichtungen, dem Individuellen werde noch weniger Raum gelassen, sagen die Kritiker der Reform. Zum ohnehin nicht besonders in russischen Kindergärten ausgeprägtem Spielen bleibt noch weniger Zeit, da propagandistische Lernstunden absolviert werden müssen: Stunden über die Bedeutung der russischen Trikolore oder über den Beruf des Soldaten. So entstünden Quasi-Schulen für Kleinkinder, befürchten Vorschulpädagogen und Psychologen. Sergej Plachotnikow, der einen Holzbaukasten zum freien Spielen entwickelt hat und für die Vorschulbildung in einer Moskauer Privatschule zuständig ist, sagt: „Man erzieht damit Vollstrecker, keine Schöpfer des eigenen Lebens.“

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