Wie die EU gegen Justiz-Missbrauch vorgehen will
Immer häufiger landen Kritiker oder Aktivisten vor Gericht, wenn sie Missstände anprangern. Nun will die EU solche Einschüchterungsversuche erschweren.
Kamil Maczuga war sich bewusst, dass sein Aktivismus Konsequenzen haben könnte. Und doch hätte er nicht gedacht, dass sein Kampf für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung auf Jahre hinaus sein Leben beeinflussen würde. Der 28-Jährige erstellte im Oktober 2018 mit drei Freunden eine interaktive Karte, in der sie polnische Gemeinden markierten, die Anti-LGBT-Deklarationen veröffentlicht haben. Durch den „Atlas of Hate“ erfuhr die Welt von „LGBT-freien“ Zonen, wie sie in Deutschland genannt wurden. Das Kürzel LGBT steht im Englischen für lesbisch, schwul, bisexuell und transgender.
„Wir wollten darstellen, wie groß das Problem der Homophobie in Polen ist und Aufmerksamkeit erregen“, sagt Maczuga unserer Redaktion. Das blieb nicht ohne Folgen für die Gruppe. Einige Zeit später wurden sie von sieben Gemeinden wegen Verleumdung vor Gericht gezerrt. Ein klassischer Slapp-Fall, vor deren Zunahme EU-Vertreter seit langem warnen.
EU will Vorschlag vorlegen: Was sind Slapp-Klagen?
Das Akronym steht für „Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“ (auf Englisch: „Strategic Lawsuits against Public Participation“) und gemeint sind unverhältnismäßige Prozesse gegen Privatpersonen, oft Journalisten oder Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen, die Missstände publik machen. Das Wort erinnert an „slap“, Ohrfeige. Als solche wirken die Einschüchterungsversuche häufig für die Betroffenen.
Am Mittwoch will die EU-Kommission einen Vorschlag für neue Regeln vorlegen, mit denen solche Klagen erschwert werden sollen, vor allem wenn die betroffenen Personen in einem anderen Land tätig sind als sie verklagt werden, was beispielsweise bei Medienschaffenden gerne der Fall ist.
Mordopfer Daphne Caruana Galizia als bekanntes Beispiel
Zu den bekanntesten Fällen gehört jener von Daphne Caruana Galizia. Als die investigative Journalistin im Oktober 2017 in der Nähe ihres Hauses im Norden Maltas in ihrem Auto in die Luft gesprengt wurde, liefen mehr als 40 zivil- und strafrechtliche Klagen gegen sie. Die Bloggerin prangerte in ihren Berichten Regierungskorruption, Bestechung, illegalen Handel, Geldwäsche und Offshore- Finanzgeschäfte in Malta an und beleuchtete den Filz zwischen Regierung, Wirtschaft und Halbwelt.
Dabei handele es sich keineswegs um eine Herausforderung einzelner Länder, sondern um ein „systematisches Problem“, stellte die EU-Kommission fest. Für Klagen innerhalb eines EU-Mitgliedstaats will die Brüsseler Behörde heute Empfehlungen abgeben. „Bei Slapp-Fällen wissen die Kläger in der Regel, dass sie nicht gewinnen werden“, so der Pole Kamil Maczuga. „Es geht darum, uns Angst zu machen und zum Stillschweigen zu bringen.“
Über 200.000 Unterschriften an EU übergeben
Vor wenigen Wochen kamen er und weitere Betroffene in Brüssel zusammen, um der zuständigen Kommissarin Vera Jourová mehr als 210.000 gesammelte Unterschriften zur Unterstützungsbekundung zu übergeben. „Missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen EU-Journalisten und Rechtsaktivisten, die sich im öffentlichen Interesse einsetzen, können und müssen aufhören“, so Jourová. Den Plänen der Behörde zufolge sollen Richter Verfahren bei offensichtlich unbegründeten Klagen künftig frühzeitig einstellen können. Vorgesehen ist auch eine Beweislastumkehr, die Opfern helfen soll.
Die Verfahrenskosten müssten bei einer Abweisung vom Kläger übernommen werden. Für etwaige Schäden könnte das Slapp-Opfer eine Wiedergutmachung verlangen. Damit weniger Verfahren angeregt werden, sollen Gerichte zudem abschreckende Strafen gegen diejenigen verhängen, die solche Fälle vor Gericht bringen. Das EU-Parlament hatte bereits vor wenigen Monaten eine verbindliche Richtlinie über gemeinsame und wirksame Schutzmaßnahmen in der EU gefordert.
Kritiker sollen mundtot gemacht werden
Denn nach Ansicht der Abgeordneten reihen sich die Prozesse gegen die Queer-Aktivistinnen und -Aktivisten des „Hass-Atlas“ ein in Aufsehen erregende Versuche von einflussreichen Unternehmen, Institutionen oder mächtigen Personen, Kritiker mit den Mitteln der Justiz mundtot zu machen. Die Verfahren kosten Nerven, viel Zeit und noch mehr Geld. Nur wenige wagen die Konfrontation. Tiemo Wölken, rechtspolitischer Sprecher der Europa-SPD, begrüßt deshalb die Vorschläge der Kommission. „Slapp-Klagen stellen einen offensichtlichen Missbrauch des Justizsystems dar und untergraben die Grundrechte auf freie Meinungsäußerungen und Informationsfreiheit“, so der EU-Parlamentarier. „Unsere Gerichte dürfen nicht von mächtigen Unternehmen, reichen Einzelpersonen oder korrupten Politikern und Politikerinnen missbraucht werden, um unbequeme Kritik loszuwerden.“
Greenpeace International kam jüngst zu dem Schluss, dass zwischen 2018 und 2019 die Zahl der Slapp-Fälle um 75 Prozent gestiegen ist. Während die Rechtslücke in den USA und Kanada geschlossen ist, gibt es bislang in keinem EU-Land ein Gesetz gegen diese Form von Klagen.
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