Weg in die Autokratie: Tunesiens Präsident schafft die Justiz ab
Der tunesische Präsident Kais Saied hat den Obersten Justizrat abgeschafft. Vergangenes Jahr hat er bereits die Regierung gefeuert und das Parlament aufgelöst.
Als die Mitarbeiter des Obersten Justizrates in Tunesien am Montag zur Arbeit kamen, standen sie vor verschlossener Tür: Die Polizei ließ niemanden in das Gebäude hinein. Präsident Kais Saied hatte den Rat, ein unabhängiges Aufsichtsgremium, am Wochenende für aufgelöst erklärt. Im vergangenen Jahr hatte Saied bereits die Regierung gefeuert und das Parlament nach Hause geschickt – jetzt knöpft er sich die Justiz vor. Tunesien, die einzige Demokratie, die aus den Aufständen des Arabischen Frühlings hervorging, wird zur Autokratie.
Saied, ein 63-jähriger Verfassungsrechtler, nimmt für sich in Anspruch, im Namen der Revolution von 2011 zu handeln. Er wirft der politischen Klasse und auch der Justiz Korruption vor: In der Fernsehansprache, in der er die Auflösung des Justizrates bekannt gab, sprach er von „Milliarden und Abermilliarden“, die von korrupten Richtern zur Seite geschafft worden seien. Beweise legte Saied nicht vor. Er sieht sich als Kämpfer, der den tunesischen Staat von „Mikroben“ befreien will, wie er Gegner tituliert.
Kais Saied wurde als Außenseiter zum Präsident gewählt
Als Saied im Juli Regierung und Parlament entmachtete, standen viele Tunesier noch hinter ihm. Die Bürgerinnen und Bürger des kleinen nordafrikanischen Landes hatten genug von einer politischen Klasse, die sich ihren Machtspielchen hingab, die Wirtschaft von einer Krise in die nächste schlittern ließ und dann auch bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie versagte. Saied, der 2019 als politischer Außenseiter zum Präsidenten gewählt wurde, erschien vielen als unbestechlicher Retter der Nation. Doch inzwischen zeigt sich, dass Saied vor allem seine eigene Macht ausbauen will.
Er ließ Oppositionspolitiker verhaften, und den im Exil lebenden Menschenrechtler Moncef Marzouki, den ersten Präsidenten Tunesiens nach der Entmachtung von Diktator Zine el Abidine ben Ali 2011, erklärte er zum Staatsfeind; Marzouki wurde in Abwesenheit zu vier Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen berichten, Zivilisten würden von Militärgerichten wegen Präsidentenbeleidigung verurteilt.
Die neue Verfassung soll dem Präsidenten mehr Macht geben
Offiziell strebt Saied mit einem Verfassungsreferendum im Juli und Parlamentswahlen im Dezember eine Rückkehr zur Demokratie an. Die Bürger können per Internet Vorschläge für die neue Verfassung machen, doch eine Mitarbeit von Parteien und Gruppen der Zivilgesellschaft lehnt Saied ab. Der Präsident gilt als Gegner eines parlamentarischen Systems, weshalb die geplante neue Verfassung mehr Macht für das Staatsoberhaupt – also ihn selbst – bringen dürfte.
Saieds Erklärung zur Auflösung des Justizrates ist typisch für sein Vorgehen: Kritiker des Präsidenten sagen, er habe keine Befugnis für einen solchen Schritt – doch die Sicherheitskräfte setzen Saieds Vorgaben trotzdem durch. Der Vorsitzende des Rates, Youssef Bouzakher, warf dem Präsidenten vor, die Justiz seinem Befehl unterstellen zu wollen. Bouzakher kündigte an, der Rat werde weiterarbeiten, doch zunächst ist unklar, wie das gehen soll, wenn die Polizei den Sitz des Gremiums abriegelt. Wenn sich Saied mit der Auflösung des Justizrates durchsetzen sollte, wäre dies das Ende der Gewaltenteilung in Tunesien, warnte der Nahost-Experte Amrd Magdi von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Immer mehr Tunesier fliehen nach Europa
Trotz der wachsenden Kritik an Saied hat sich die Opposition bisher nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Ein Teil des Oppositionslagers lehnt eine Zusammenarbeit mit der gemäßigt-islamischen Ennahda-Partei ab, obwohl die Ennahda die stärkste Kraft im aufgelösten Parlament war. Auch der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT habe wegen interner Streitigkeiten bisher keine klare Position gegen Saied bezogen, schrieb die Tunesien-Expertin Monica Marks in einer Analyse für die Organisation Dawn, die sich für Demokratie im Nahen Osten einsetzt.
Wirtschaftliche Reformen kommen in diesem Machtkampf unter die Räder. Tunesien verhandelt mit dem Internationalen Währungsfonds über ein Hilfspaket von vier Milliarden Dollar, müsste sich aber als Gegenleistung zu Einsparungen im aufgeblähten öffentlichen Dienst verpflichten. Das Vertrauen internationaler Geldgeber ist erschüttert. Auch immer mehr Tunesier kommen zu dem Schluss, dass ihr Land ihnen keine Zukunft bieten kann, und sehen nur einen Ausweg: die Flucht nach Europa.
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