
Gefoltert in Cherson: Oleksandr entging nur knapp dem Tod in der Ukraine

Plus Oleksandr schließt sich dem Widerstand gegen russische Truppen an. Er wird verhaftet und fast bis zum Tod geschunden – in einem der vier Foltergefängnisse Chersons.
Über die Landebahn pfeift ein eisiger Wind. Weiße Schneefelder überziehen den grauen Beton. In der angrenzenden Wiese stehen die Wracks ausgebrannter Militärfahrzeuge. Im Hintergrund ragt die Ruine des Flughafengebäudes auf. Zerschossen und zerbombt. Gewaltige Fensterrahmen hängen zwischen Mauern im Nichts, zersplittertes Glas und verrußte Wände. Kurz vor Beginn der Invasion investierte der ukrainische Staat 30 Millionen Euro in den Flughafen. Unter dem Schnee sieht man das frische Grau der erneuerten Start- und Landebahn. Zur geplanten Übergabe am 27. März 2022 kam es nicht mehr, russische Truppen hatten da schon den zivilen Flughafen und sein militärisches Pendant besetzt. Von hier aus starteten sie Angriffe auf die ukrainischen Truppen und die nahe Frontlinie. Statt Linienflieger nach Istanbul und in ukrainische und europäische Städte stiegen nun Kampfhubschrauber auf.
Oleksandr hat die Kapuze seines schwarzen Hoodies tief in sein Gesicht gezogen. Er geht nur mühsam, in kleinen, eckigen Schritten. "Hätten die Russen ungestört den Flughafen nutzen können, Mykolajiw wäre gefallen. Ihr Vormarsch wäre weiter gekommen", sagt der 47-Jährige. Bis zur Befreiung Chersons Mitte November gab es nach ukrainischen Angaben rund 60 Angriffe auf den Flughafen, Dutzende von Kampfhubschraubern sollen dabei zerstört worden sein.
Der russische Geheimdienst hatte den Mann aus Cherson schon auf dem Radar
Oleksandr hat seinen Teil dazu beigetragen, dass die Invasoren den Flugplatz nur begrenzt nutzen konnten. Er sammelte Daten von Hubschrauberflügen, militärischen Fahrten, feindlichen Stellungen sowie Truppenbewegungen und -stärken. Andere Mitglieder des Widerstandes übermittelten ihm, was sie sahen und hörten. Er gab alles weiter. Schnell und direkt über sein Smartphone. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, dass er dabei irgendwann entdeckt wird. Als ehemaliger parteiloser Kommunalpolitiker und Aktivist war er den Besatzern schon verdächtig genug. Die Russen bauen in ihren kontrollierten Gebieten schnell ein Spitzelsystem auf: "Wer von deinen Nachbarn ist pro-ukrainisch? Wer ist politisch engagiert?" Der Geheimdienst FSB füllt seine Listen schnell oder erweitert die bestehenden. Irgendwann würden sie hinter ihm her sein, das war Oleksandr klar.
Es sind Widerstandskämpfer wie er, die als Informanten Daten an ihre Militärs weitergeben, die Drohnen- und Satellitenbilder nicht liefern. Oleksandr zahlt für seinen Widerstand gegen die Besatzer einen hohen Preis. "Am 16. August haben sie mich verhaftet", erzählt der Mann.
Er ist vorbereitet. Damals spricht sein Mitkämpfer am Telefon plötzlich Russisch statt Ukrainisch. "Ich habe verstanden, Gefahr droht", sagt der 47-Jährige ins Handy. Bei einem Smartphone-Techniker will er eine neue Verschlüsselung auf sein Gerät aufspielen lassen. Kurz vor der Werkstatt fangen sie ihn ab. Zwei Soldaten und zwei FSB-Offiziere. "Leugnen war zwecklos", berichtet Oleksandr.
Dann erzählt er, wie die Soldaten nicht lange warten und schon mit ihren Gewehrkolben zuschlagen. Er geht zu Boden, versucht sich vor den Schlägen zu schützen. Ihm ist klar, was folgen wird: Folter. "Es reichte schon, am falschen Ort zur falschen Zeit schlecht über die Russen zu sprechen. Wer Pech hatte, erlebte dafür Grausames. Ich war vom Widerstand, was hätte mir anderes passieren sollen …"
Mitte November wurde Cherson von den russischen Besatzern befreit
Die beiden FSB-Offiziere werden ihn über zwei Wochen lang foltern – im Keller eines der vier Spezialgefängnisse, die die russischen Besatzer in der Stadt eingerichtet haben. Geschunden wird in manchen Fällen bis zum Tod. Wenige Tage nach der Befreiung von Cherson werden ukrainische Behörden in der Stadt und der Umgebung 63 Tote mit Folterspuren finden. In der Region kommt es zu mehr als 430 Untersuchungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Und das ist nur die vorläufige Bilanz direkt nach der Befreiung.
Ähnliches wird auch nach der vollständigen Zurückeroberung der Region Charkiw durch ukrainische Truppen gemeldet. Auch hier finden die Befreier Folterstätten sowie Massengräber – wie zuvor im Frühjahr in Butscha und Irpin in der Region Kiew. "Die russischen Streitkräfte haben die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine in einen Abgrund der Angst und der Gesetzlosigkeit verwandelt", sagte Yulia Gorbunova, Senior-Researcherin bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, nach der Befreiung von Cherson.

Als am 11. und 12. November 2022 die ukrainische Armee in die Stadt vorrückt, stehen die Menschen am Straßenrand und weinen vor Freude. Es ist für sie das Ende der Rechtlosigkeit. Die Bewohnerinnen und Bewohner empfangen die ukrainischen Kämpfer, als wären sie Rockstars. Sie strecken den Männern in Camouflage Fähnchen entgegen, die sie unterschreiben sollen. Doch heute erinnert der ständige Beschuss noch immer an die russischen Besatzer, die ihre Stellungen auf der anderen Seite des Dnipro bezogen haben und von dort ihre Granaten und Grad-Raketen nach Cherson abfeuern – nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Selbst Krankenhäuser erhielten Treffer.
80 Prozent der Bevölkerung der Stadt sollen vor der russischen Armee und ihrem Bombardement geflohen sein. Auch jetzt hört man in der Ferne das Wummern der Artillerie. Braaam, braaaam, braaaaam. Dann herrscht Stille. Oleksandr, der mittlerweile nahe der Ankunftshalle des Flughafens angekommen ist, hat sich an den Sound des Kriegs gewöhnt. Ein Blick ins Innere der Halle bietet nur Trostlosigkeit: Trümmer und verkohltes Inventar.
Seine russischen Folterknechte bringen Oleksandr zum Sprechen
Damals, nach seiner Verhaftung im August 2022, sehnt sich Oleksandr den Tag der Befreiung herbei. Täglich wird er in den Keller geführt, nach den Misshandlungen schleifen sie ihn in die Zelle zurück. Das provisorische Gefängnis liegt im Stadtgebiet. Ein gelb gestrichener Gebäudekomplex mit grauem Stahltor samt Stacheldraht. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich schwer herzkrank bin", sagt der 47-Jährige. Er vermutet, dass sie ihm deswegen die Elektroden für die Elektroschocks nicht an den Genitalien, sondern an den Fingern anbrachten. "Ein totes Folteropfer hat für sie keinen Nutzen", vermutet er. Sie drehen den Strom auf, bis er sich krümmt und auf dem Boden hilflos zappelt.
Seine russischen Folterknechte bringen ihn zum Sprechen. "Doch zum Glück erfuhren sie von mir nichts, was sie nicht schon wussten." Das ist für die FSB-Offiziere alles andere als zufriedenstellend. Sie kommen jetzt mit einer Anschuldigung: "Wir sollten ein Bombenattentat geplant haben, bei dem bewusst Zivilisten das Ziel sein sollten. Das sollte ich gestehen. Es war eine Lüge. Wir hatten vor, Anschläge auf die russische Armee und den Geheimdienst zu verüben. Das stimmt. Aber bestimmt nicht auf Zivilisten. Wir sind nicht so wie sie", sagt Oleksandr.

Für ihn beginnt nun die schlimmste Zeit. "Sie wollten mein Geständnis haben, ein Terrorist zu sein. Das war ihr Ziel, uns Widerstandskämpfer in der Öffentlichkeit als Terroristen darzustellen. Vermutlich hätten sie mich dann bei einem ihrer Schauprozesse vorgeführt. Ganz im Stil von Stalin. Davon gab und gibt es genug in den besetzten Gebieten im Donbas", erzählt er.
Die FSB-Offiziere kommen nicht weiter. "Sie versuchten es auf die brachiale Weise. Ich denke, sie haben Freude daran gefunden. Es hat ihnen Spaß gemacht, mich zu schinden." Sie schlagen mit Knüppeln auf seine Beine ein. "So lange, bis die Haut platzte, und dann immer weiter auf das offene Fleisch", berichtet der Ukrainer. Wenn sie dabei nicht die Grenzen beachten, verliert Oleksandr die Besinnung – und kann ihnen so für eine gewisse Zeit entfliehen.
Oleksandr kommt nicht mehr in seine Wohnung zurück
Die Offiziere merken, dass ihr Gefangener die Torturen nicht mehr lange überlebt. "Dann kam ich am 2. September ins Krankenhaus. Ich war nur ein Wrack, meine Beine nur noch schmerzende Fleischklumpen", sagt Oleksandr. Er wird notoperiert. Weitere Eingriffe folgen. Haut wird von anderen Körperpartien entnommen, um sie auf die geschundenen Beinpartien aufzubringen.
Am 21. September kommt er in eine andere Klinik, zur Rehabilitation. "Dann kommt am 24. Oktober ein Arzt zu mir. Er drückt mir ein Entlassungsschreiben in die Hand. Ich solle fliehen, weil der FSB mich bald holen würde. Er hat sich dafür selber in Gefahr gebracht." Mit dem Stadtbus schafft er es bis zu einem Freund. "Dort konnte ich untertauchen, bis die Stadt befreit wurde. Dort lebe ich noch immer. In meine Wohnung kann ich noch nicht zurück, es sind zu viele Stufen zu steigen für meine Beine."
Bis heute sind die Verletzungen des Ukrainers nicht richtig verheilt
Auf seinem Smartphone hat Oleksandr Fotos, die im Krankenhaus von seinen offenen Verletzungen an den Beinen gemacht wurden. Es sind erschütternde Aufnahmen. Bis heute sind die Verletzungen nicht richtig verheilt. Oleksandr trägt Verbände. Andere Wunden, die die Folter verursacht hat, sieht man mit dem Auge nicht. Es sind vielleicht die noch grausameren.
"Die Ukraine, für die ich kämpfe, soll ein freies, soziales und gerechtes Land sein. Niemand soll Angst haben, wenn er seine Meinung sagt. Putins Russland ist das Gegenteil", sagt Oleksandr. Dann geht er mit kleinen Schritten Richtung Auto. "Anfangs habe ich mir gewünscht, dass meine Folterknechte für ihre Grausamkeit sterben sollen. Heute sage ich: Nein, sie sollen einen Prozess bekommen."
Vielleicht würde ein Stück Gerechtigkeit Oleksandr etwas Ruhe bringen. Nachts kann er kaum schlafen. Und dann findet er sich im Traum meist im Folterkeller wieder.
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Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Artikel, der hoffentlich auch dem ein oder anderen Putinversteher und/oder Pazifisten (Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine) die Konsequenzen für weite Teile der ukrainischen Bevölkerung aufzeigen kann, wenn die Ukraine ihren militärischen Widerstand gegen den Aggressor Russland einstellen würde: Dies wäre für viele Ukrainerinnen und Ukrainer eben nicht das geringere Übel, sondern der Anfang zu noch mehr unerträglichem Leid und Unrecht. Die Ukrainerinnen und Ukrainer müssen selbst entscheiden, welche leidvollen Opfer sie bereit sind zu erbringen, um dieses (vermeintlich größere) Leid abzuwenden.