Wo Menschen heute friedlich Urlaub machen, kam es im Juni 1859 zu einem der blutigsten Gemetzel des 19. Jahrhunderts: Bei der Schlacht von Solferino kämpften südlich des Gardasees Italiener und Franzosen gegen Österreicher. Mit dabei war Henry Dunant, ein junger Geschäftsmann aus Genf, dessen Schilderungen der Kriegsgräuel schlussendlich die Gründung des Roten Kreuzes in Gang setzten. „Wir haben qua Geburtsstunde eine enge Beziehung zu unparteiischer und neutraler humanitärer Hilfe in bewaffneten Konflikten“, sagt Christian Reuter heute. Er ist Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, das in diesen Zeiten so gefordert ist, wie schon lange nicht mehr. „Ich glaube, dass wir als Gesellschaft nach wie vor nicht ansatzweise begriffen haben, in welchem neuen Zeitalter wir leben. Das Führen von bewaffneten Konflikten ist nicht mehr eine Fußnote in Geschichtsbüchern oder ein theoretisches Konstrukt, sondern eine Realität, die an das Bundesgebiet näher herangerückt ist“, sagt Reuter.
Der Einmarsch der Russen in die Ukraine löste teils heftige Debatten über Waffenlieferungen und die Rolle der Bundeswehr aus. Kanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete im Bundestag eine „Zeitenwende“, die vor allem Milliarden Euro zur Aufrüstung beinhaltete. Beim Blick über die Grenze gerieten der Politik innere Befindlichkeiten aus dem Fokus. „Im Bereich des Bevölkerungsschutzes hat es bis dato, das muss man so hart sagen, keine Zeitenwende gegeben. Dabei bräuchten wir sie dringend“, sagt Christian Reuter. Der Diplom-Volkswirt nähert sich seinem zehnjährigen Dienstjubiläum als Generalsekretär, vor seinem Wechsel zum DRK leitete er als Bundesgeschäftsführer den Arbeiter-Samariter-Bund.
Schlimme Weltlage
Bei Kriegen und bewaffneten Konflikten unterstützt das DRK einerseits den Sanitätsdienst der Bundeswehr, darüber hinaus wirkt es an Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung mit. Grundlage dafür sind vor allem die Genfer Abkommen von 1949 sowie das DRK-Gesetz. Die einschlägigen Paragrafen müssen in der Gesellschaft aber auch gelebt werden, und da scheint es hierzulande noch zu haken.
Früher, sagt Reuter im Gespräch mit unserer Redaktion, sei das DRK im Ausland häufig nur bei Naturkatastrophen im Einsatz gewesen. „Heute unterstützen wir die humanitäre Hilfe unserer Schwestergesellschaften in vielen Regionen der Welt in längerfristigen Nothilfelagen aufgrund bewaffneter Konflikte.“ Die Lage sei nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ernst: „In unserer internationalen Arbeit hat sich diese unruhige Weltlage schon viel früher gezeigt“. In Deutschland habe man allerdings lange nicht begriffen, „wie sehr sich die Weltlage verschlimmert hat“.
Erfahrung durch die Coronapandemie
„Was ein bewaffneter Konflikt wirklich bedeutet, wissen weite Teile der Bevölkerung nicht“, sagt Reuter ohne Vorwurf in der Stimme und ergänzt: „Ich würde auch sagen, dass nicht jeder Mediziner oder jeder Krankenpfleger automatisch weiß, was Kriegsverletzungen wirklich bedeuten. Das sind Bilder, die selbst für Profis schwer auszuhalten sind.“ Aber je näher ein Krieg an Deutschland heranrückt, je stärker die Weltlage auf bewaffnete Konflikte dreht, desto notwendiger scheint die Auseinandersetzung damit zu sein.

Zusammen mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr hat das DRK ein Positionspapier verfasst. Beide Seiten arbeiten schon seit Jahren eng zusammen. Eine Art „Erweckungsmoment“ habe es, sagt Reuter, während der Ebola-Krise 2013/2014 gegeben, als das DRK mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr in Westafrika im Einsatz war. Eine Zusammenarbeit gab es auch während der Flüchtlingsbewegung in Deutschland sowie der Coronapandemie.
Es fehlt an Geld
Die Anforderungen sind gestiegen. Auch muss präziser formuliert werden, was früher wegen des Seelenfriedens der Bevölkerung nur in Expertenrunden diskutiert wurde. Es geht da etwa um ausreichend viele Krankenhausbetten, um eine umfassende Blutversorgung in Kriegszeiten oder den Transport verletzter Soldatinnen und Soldaten – und nicht um einen gereizten Blinddarm. „Die Verletzungsbilder sind natürlich ganz andere als beispielsweise einfache Beinbrüche“, erklärt Reuter.
Die Vorbereitung auf den bewaffneten Konfliktfall muss nachhaltig finanziert sein. Doch während der Staat Milliarden Euro in neue Waffen investiert, finden einschlägige Themen wie Übung, Qualifizierung, Ausstattung oder Ausrüstung keine ausreichende Berücksichtigung in den Haushaltstiteln. Das müsse sich schnell ändern, sagt Reuter. „Anderenfalls ist es ein wunderschönes Papier, das aber leider keine Perspektive bietet.“
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