Ding dong, ding dong, ding dong. Der Campanile hat sich im Ton vergriffen. Zumindest klingt sein Geläut eigenartig, ein wenig wie das des Big Ben in London - nur weniger laut und weniger volltönend. Das geschichtsträchtige Bauwerk, das auf dem Markusplatz in Venedig steht, hat einen etwas zu kurz geratenen Klon mit Sprachfehler auf Phu Quoc, der größten vietnamesischen Insel im Golf von Thailand. Um ihn herum erstreckt sich ein ganzes Viertel bis hinab zur Küste, das so gar nicht nach Vietnam aussehen will. Eher wie Little Italy. Schmale Treppen verbinden die Ebenen der Siedlung, die Stufen sind mit bunten Mosaiken verziert. Blumen ranken sich an schmiedeeisernen Geländern entlang. Auf den Balkonen stehen kleine Olivenbäumchen. Statt bemalter vietnamesischer Stofflampions ragen schwarzgraue Laternen im europäischen Stil auf mehrarmigen Pfählen in die Höhe. Direkt daneben weisen Schilder den Weg zur Amalfi Street, Positano Street und zur Venice Street.
Die Liebe zum Detail ist erkennbar, auch wenn hier und da der Putz bröckelt. Nur, dass selbst der nicht wirklich bröckelt. Die Risse in den Fassaden sind nur aufgemalt, die in Pastellfarben gestrichenen Gebäude sind - anders als die Originale - noch keine zehn Jahre alt. Sunset Town will ein wenig Amalfiküste sein. In der Mittagshitze ziehen Brautpaare durch die Straßen, es wird gepudert und viel fotografiert. Hochzeitsbilder vor pseudoitalienischer Kulisse, vor einem Nachbau des Trevi-Brunnens, vor einer Statue im römischen Stil oder einer kleinen Attrappe des Kolosseums. Braut und Bräutigam strahlen mit der Sonne und dem blank geputzten Kopfsteinpflaster um die Wette.

Und dabei sind sie fast allein. Denn hier sieht nur die Fassade nach dolce vita aus. Eine Hülle, ohne das typische Leben und das Gewusel einer italienischen Küstenstadt. Ein Großteil der Shops und Restaurants steht leer, genauso wie die Wohnungen in den Obergeschossen der Häuser. Schilder mit Telefonnummern kleben auf verstaubten Schaufenstern. Sunset Town ist während der Corona-Pandemie in Betrieb genommen worden. Vielleicht erklärt das, warum hier kaum jemand lebt, geschweige denn ein Geschäft eröffnet hat. Vielleicht kann es sich auch einfach niemand leisten. Eigentlich, so der ehrgeizige Plan, sollte die vietnamesische Mittelschicht auf Phu Quoc urlauben oder sich im besten Fall ein Apartment kaufen. Stattdessen landen vermehrt Flieger mit Gästen aus China, Russland, Thailand und Korea auf der Insel. „Die meisten Gäste bleiben eine Woche, und sie bringen ihre Familie mit“, erklärt Arturo Malturan, Gastronomieleiter im Hotel La Festa. Und es werden immer mehr.
Der vietnamesische Drache hat Hunger auf Touristen
Vor gut zehn Jahren kamen gerade mal 500.000 Touristen jährlich. Inzwischen hat sich diese Zahl mehr als verzehnfacht. Phu Quoc musste dafür nicht weniger geben als seine vietnamesische Seele. Die Insel hat eine eigenartige Metamorphose durchlebt, angetrieben von Milliarden-Investitionen, Myriaden an Arbeitern, Bulldozern, Planierraupen und ehrgeizigen Plänen. Mit ihren unbebauten, palmengesäumten Stränden galt sie viele Jahre als Geheimtipp unter Rucksack-Touristen. Wo einst Fischsaucenfabrik, Perlen- und Pfefferfarm als Attraktion genügten, kleine Hotels die Touristen beherbergten, die Nachtmärkte mit ihren Essensständen den Hunger stillten, gibt es jetzt ein Überangebot an Entertainment und Fünf-Sterne-Resorts.

Der vietnamesische Drache hat Hunger, Hunger auf Touristen. Und so nährt er sein größtes und profitabelstes Eiland mit besonderem Fleiß. Wer auf Phu Quoc Urlaub macht und die Insel direkt oder im Transit anfliegt, braucht kein Visum. Die Zahl der Flüge, die auf dem internationalen Flughafen ankommt, erhöht sich stetig, und es wird immer weiter gebaut. Höher, schneller, weiter. Dafür sorgen zwei vietnamesische Großkonzerne, die die Insel wie einen leckeren Happen untereinander aufgeteilt haben: die Vingroup, ein Großkonzern, dessen Vorstand Phạm Nhật Vượng der reichste Mann Vietnams ist. Und die Sungroup, die auf Ferienanlagen und Freizeitparks spezialisiert ist. Gemeinsam haben sie Phu Quoc in eine Mischung aus Disneyland und Las Vegas verwandelt.
Gigantomanie gehört zum guten Ton auf Phu Quoc
Gigantomanie gehört zum guten Ton. Der Safari-Park, den Vinpearl mit Elefanten, Tigern, Nashörnern, Flamingos und allerlei anderem Getier im Norden der Insel betreibt, ist der größte seiner Art im Land. Aus der Wildnis Afrikas führt der Weg im Las Vegas Vietnams in nur fünf Kilometern zurück nach Italien. Das Venedig Phu Quocs wartet mit einem 400 Meter langen Kanal auf, der gesäumt ist mit blauen, roten, gelben und grünen Häuschen und von Brücken überspannt wird. Gondoliere in rot-weiß gestreiften Shirts schippern Touristen umher. Es ist nicht notwendig, den ganzen Weg nach Italien zu reisen, wo Venedig doch direkt auf Phu Quoc zu finden ist, werben die Veranstalter selbstbewusst. Und vielleicht ist das ja auch so, wenn man einmal ganz kurz über den Rand der europäischen Brille blickt. Die zugegebenermaßen doch ein wenig beschlagen ist von der Schönheit des Canal Grande und dem Zauber, den die echte Lagunenstadt verströmt. Immerhin liegen 9000 Kilometer zwischen Original und Kopie.

Zwischen Phu Quoc und Hon Thom liegen dagegen nur acht Kilometer Luftlinie. Seit 2018 verbindet eine Seilbahn die beiden Inseln. Sie ist die längste ihrer Art, die das Meer überquert. Rund 15 Minuten dauert die Fahrt in einer der voll verglasten Kabinen, die 30 Personen Platz bietet und die zumindest kurzzeitig den Blick auf das ursprüngliche Vietnam freigibt. Kleine Hütten mit Wellblechdächern, Fischfarmen und unzählige kleine Boote, die träge entlang der Küste im Wasser treiben. Der Eindruck ist flüchtig, und erst einmal auf Hon Thom angekommen, steht wieder eines im Vordergrund: das Vergnügen. Dafür sorgt ein Wasserpark mit gigantischen Rutschen, Röhren und Spielplätzen.
An 365 Tagen im Jahr wird vor Sunset Town ein Feuerwerk abgebrannt
Im fast 50 Hektar großen Vinwonders Freizeitpark, dem größten seiner Art in Vietnam, steht ein Disney-Märchenschloss, es gibt Achterbahnen, ein Riesenrad und ein Aquarium, das im Bauch einer riesigen Schildkröte versteckt ist. Vor der Kulisse von Sunset Town schwebt eine gigantische Bühne auf dem Wasser. Am Abend werden dort aufwändige Shows mit Lasertechnik und Jetskis aufgeführt, und an 365 Tagen im Jahr erhellt ein gigantisches Feuerwerk den Nachthimmel hinter den frisch eingepflanzten Palmen.

Im Dezember 2024 hat die Sungroup den Grundstein für ihr nächstes Großprojekt gelegt: den Aspira Tower. Der Hotelturm soll schon in zwei Jahren mit einer Höhe von 220 Metern alle anderen Bauwerke auf der Insel überragen. Auf den Bildern, mit denen für das Projekt geworben wird, sieht er aus wie der Burj Al Arab, der ikonische, wie ein Segel geformte Hotelturm und Touristenmagnet an Dubais Küste. Wieder eine Kopie, wieder eine Attraktion, die in Windeseile aus dem Boden gestampft werden wird, wieder 20.000 Quadratmeter herausgelöst aus der vietnamesischen Seele Phu Quocs.
Denn es gibt sie noch, die ursprüngliche Schönheit der Insel. Ihre Strände zum Beispiel: der Sao Beach oder der Khem Beach. Hier ragen natürlich gewachsene Palmen weit über den weißen Sand. Das Wasser, das sanft ans Ufer brandet, ist glasklar. Ein Postkartenidyll, öffentlich und für jedermann zugänglich. Die Hotels stehen in zweiter Reihe, hinter den meterhohen Bäumen versteckt. Sao bedeutet auf Vietnamesisch Stern, Khem Eiscreme. So einfach, so schön, so authentisch.
Die Autorin recherchierte auf Einladung von Vietnam Airlines und Hilton Vietnam
Kurz informiert
Anreise: Direktflüge ab München mit Vietnam Airlines nach Hanoi oder Ho-Chi-Minh-Stadt zweimal pro Woche, Flugpreis ab 800 Euro. Inlandsflüge von Ho-Chi-Minh-Stadt nach Phu Quoc gibt es ab 50 Euro pro Person.
Übernachten: Wer auf dem Weg von oder nach Phu Quoc einen Zwischenstopp in Ho-Chi-Minh-Stadt einlegen möchte, findet dort Unterkünfte für jeden Geldbeutel. Zentral gelegen ist das 2024 eröffnete Hilton Saigon, das darüber hinaus einen tollen Blick auf den Saigon River bietet.
Auch auf Phu Quoc gibt es Unterkünfte in verschiedenen Preisklassen. Das La Festa Phu Quoc, Curio Collection by Hilton, liegt im Südwesten der Insel, mitten in Sunset Town, und verfügt über 240 Zimmer und Suiten sowie vier Restaurants.
Unternehmungen: Eine Fahrt mit der Hon Thom Cable Car plus Eintritt für den Wasserpark kostet rund 15 Euro pro Person. Ein Ticket für die aufwändige Kiss of the Sea Show in Sunset Town liegt bei rund 38 Euro pro Person.
Weitere Informationen im Internet: www.visithcmc.vn, www.benthanhtourist.com
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