Der Fels liegt da, als wäre er eben noch bearbeitet worden. Wohl geformt und fein geschliffen, aus der Mitte ragt ein Sockel, seitlich ist ein Quader herausgeschlagen. „Mit dem Sonnenstein konnten die Inka den Beginn der Regenzeit und den Zeitpunkt der Aussaat bestimmen“, sagt Walter Rodríguez. Ein Kalender, vor 500 Jahren in Stein gemeißelt und eines der wichtigsten Heiligtümer von Machu Picchu. Und man steht da und staunt – über diesen Stein und diesen Ort.
Die alten Mauern schmiegen sich an den Berg, als wären sie eine Verbindung zwischen dem Irdischen und Göttlichen. War es Zufall oder Vorsehung, dass sie die Zeit fast unbeschadet überdauerten? Es soll ja Menschen geben, die das alles wenig beeindruckt. Einmal habe er ein wohlhabendes Ehepaar herumgeführt. „Sie haben Fotos gemacht und wollten wieder weg“, sagt Rodríguez. Er hat viel erlebt hier oben, seit Jahren führt er Besucher nach Machu Picchu, mehr als tausendmal war er da. Früher hat er Touren auf dem Inka-Trail angeboten, einem der berühmtesten Wanderwege Südamerikas. Vier Tage, 44 Kilometer, dann ist man in Machu Picchu.
Machu Picchu diente als religiöses Heiligtum und astronomisches Zentrum
Für die meisten Menschen ist der Besuch ein einmaliges Erlebnis, für Rodríguez ist er fast schon Routine. Wobei, mindestens einmal in der Woche kommt er hoch, aber auch er sagt: „Ich bin immer wieder fasziniert und entdecke Neues.“ Formen im Gestein, ein unbekannter Schattenwurf, je nach Tages- und Jahreszeit erscheinen die alten Mauern in neuem Licht.
Und Archäologen fördern immer wieder Erkenntnisse zutage. „In den letzten Jahren konnten einige Fragen beantwortet werden, aber vieles ist unklar“, sagt Rodríguez. Wie geheim war die Stadt? Wofür diente sie? Wurden Opferrituale gefeiert? Warum wurde sie verlassen? Mehr als hundert Jahre nach Entdeckung ranken sich Theorien um die Stätte, über vieles rätseln Forschende, auch das macht Machu Picchu zu einem so mystischen Ort.

Erbaut wurde die Stadt wohl Mitte des 15. Jahrhunderts, aber sie wurde nicht einfach bewohnt, sondern diente als religiöses Heiligtum und astronomisches Zentrum, in das Menschen von weit her pilgerten. Darauf deuten Tempelstrukturen, Nischen im Fels, die als Mausoleum genutzt wurden und präzise bearbeitete Felsen wie der Sonnenstein. „Es wurden Steine aus weit entfernten Regionen entdeckt“, sagt Rodríguez. „Der Ort war wohl eine Art Bildungszentrum, an dem geforscht und Wissen weiter gegeben wurde.“
Ob er schon mal allein hier oben war? Rodríguez nickt. „Ich war auch schon nachts da, früher durfte man am Sonnentor zelten“, sagt er. Noch nie habe er die Sterne und die Milchstraße so klar gesehen. Und dann dieser Moment, als die Sonne hinter den Bergen aufging und die alten Mauern mit Licht flutete. „Kein Wunder, dass die Inkas diesen Ort auserkoren hatten, um den Göttern zu hudligen“, sagt Rodríguez.
Müll, Graffitis, respektlose Fotos - in Machu Picchu zeigten sich die Folgen des Overtourism
Und noch immer fühlt man sich dort oben auf 2500 Metern dem Himmel ein Stück näher, über den Mauern und Terrassen liegt etwas Mystisches. Eine Frau sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Fels und meditiert. Paradox, aber Besucher suchen an dieser berühmten Stätte auch Stille und innere Einkehr. Und natürlich nach dem perfekten Selfie.
Hinter einer Biege liegt er, der Postkartenblick, dutzende Male auf Fotos gesehen, trotzdem wollen ihn alle festhalten. Selfie-Sticks ragen in die Höhe, Familien posieren, Pärchen küssen sich. Und dann spaziert auch noch ein Lama am Hang entlang und glotzt freundlich in die Kameras. Kurzer Stau am Foto-Hotspot, dann verteilen sich die Besucher und es geht erstaunlich ruhig zu. Vielleicht liegt es an der Zeit, früher Nachmittag, da ist meistens weniger los, sagt Rodríguez. Auch die Hochsaison ist schon vorbei. So entspannt wie an diesem Tag ist es nicht immer.

Machu Picchu hatte mehrmals als trauriges Beispiel für Overtourism Schlagzeilen gemacht. Müll, Graffitis, respektlose Fotos und Einheimische, die kaum von den Einnahmen profitierten – das sollte sich ändern. Jetzt führen vier feste Routen durch die Ruinen, man darf nicht länger als vier Stunden in der Anlage verweilen und die Behörden haben die Zahl der Besucher auf 5600 am Tag begrenzt. Um die genaue Zahl wird immer wieder gerungen, die UNESCO fordert weniger Besucher, um das Weltkulturerbe zu schützen. Doch die Maßnahmen scheinen zu wirken, noch immer geht eine Magie von dem Ort aus.
Schon die Zugfahrt von Ollantaytambo nach Aguas Calientes ist ein Erlebnis
Schon der Weg nach Machu Picchu ist außergewöhnlich. Eingerahmt von Bergen zuckeln Besucherinnen und Besucher mit dem Zug von Ollantaytambo am Urubamba-Fluss entlang durchs heilige Tal. Das anfangs recht karge, von Ginstersträuchern und Kakteen gesäumte Hochland wandelt sich nach und nach in einen dichten Tropenwald. Und wer im richtigen Moment aus dem Fenster schaut, erhascht einen Blick auf die schneebedeckte Kuppe des 5900 Meter hohen Nevado Veronica. In Aguas Calientes, das mit hunderten Souvenirständen mehr einem Basar gleicht als einem beschaulichen Andendorf, endet die Zugfahrt.
Die letzten Kilometer rumpelt man in Kleinbussen über schmale Serpentinen hinauf nach Machu Picchu. Immer nah am Abgrund, eine Touristin lehnt kreidebleich am Fenster, besser nicht nach unten schauen, sondern das Bergpanorama genießen und Rodríguez’ Erzählungen über die Inka lauschen.

Deren Reich war das größte in Amerika, es reichte vom heutigen südlichen Kolumbien bis nach Chile. Sie erhoben Quechua zur Amtssprache und den Sonnenkult zur Staatsreligion – mit Sonnengott Inti an der Spitze und dem Inka-Herrscher als dessen irdischem Vertreter. Aber sie ließen den Menschen ihren individuellen Glauben.
Den Bergen, Wasserfällen, Flüssen, Höhlen, allem wohnte ein Geist inne. Besonders verehrt wurde Pachamama, die Mutter der Erde, Vermittlerin zwischen Ober- und Unterwelt und Schöpferin allen Lebens. Ihr zu Ehren brachten die Inka Opfergaben und baten um gute Ernte. Dabei waren sie exzellente Landwirte, bauten Quinoa, Bohnen, Wurzelpflanzen, hunderte Kartoffelsorten und Baumwolle an und bewirtschafteten mithilfe von Terrassen und einem ausgeklügelten Bewässerungssystem die steilsten Hänge. Auch die Terrassen von Machu Picchu dienten als Gewächshaus, um die Menschen in der hoch gelegenen Stadt zu versorgen.
Papst Leo XIV. lebte viele Jahre in Peru und hat eine enge Verbindung zum Land
Erst als die Spanier 1532 in das Inkareich einfielen, verließen die Bewohner die Stadt, vielleicht um sie vor der Zerstörungswut der Kolonialisten zu schützen. Denn diese erbeuteten Bodenschätze, zerstörten Tempel und unterjochten die indigene Bevölkerung. Die Spuren der grausamen Konquista prägen Peru bis heute.

In Cusco, der einstigen Hauptstadt des Inka-Reichs, ist die Kolonialgeschichte an jeder Ecke sichtbar. Vom Sonnentempel sind nur noch Mauerreste zu sehen, die Kathedrale am Hauptplatz thront auf den Grundmauern des ehemaligen Inka-Palastes. Doch im Inneren der Kirche zeigt sich, dass die Unterdrücker die Vorstellung und Lebensweisen der Indigenen nicht ganz auslöschen konnten. Die Jesusfigur ist schwarz, Maria ist als Pachamama dargestellt und ein Gemälde zeigt das letzte Abendmahl, mit einem Meerschweinchen auf dem Teller. Das Tier gilt als Delikatesse in den Anden.
Ihren polytheistischen Glauben gaben die Einheimischen nie ganz auf, auch wenn heute 90 Prozent der Menschen katholisch sind und der neue Papst, Leo XIV., die Peruaner direkt in seiner Ansprache auf dem Petersdom begrüßte. Er lebte viele Jahre im Land, hat eine innige Verbindung und die peruanische Staatsbürgerschaft angenommen.
Am Regenbogenberg von Palcoyo knapp 5000 Metern wird die Luft dünn
Auch Rodríguez fühlt sich mit den Glaubensvorstellungen seiner Vorfahren, verbunden. Er ist in Cusco aufgewachsen. „Damals war die Stadt ein Dorf“, sagt er. Heute kommen so viele Touristen her, dass der Flughafen nicht ausreicht. Im 15 Kilometer entfernten Chinchero wird ein zweiter Flughafen gebaut, er soll heuer eröffnet werden. Denn von Cusco aus starten Besucher in Richtung Machu Picchu. Viele erleben die Stadt als atemberaubend, nicht nur wegen der imposanten Kolonialbauten, sondern weil ihnen wortwörtlich die Puste ausgeht. Cusco liegt auf 3400 Metern und die Höhe macht fast allen zu schaffen. In Cuzcos Fußballstadion haben schon Top-Mannschaften aus Brasilien und Argentinien verloren, weil ihnen in der sauerstoffarmen Luft das Atmen schwerfiel. Echter Heimvorteil.

Aber nach einem Tag hat sich der Körper meist an die Höhe gewöhnt und man kann sich einen Pisco Sour gönnen. Der Drink aus Traubenschnaps, Zuckersirup, Limettensaft und Eiweiß ist quasi das Nationalgetränk. Wem das zu hochprozentig ist, der kann an einer Inca Cola nippen. Giftgelbe Limo, pappsüß und äußerst beliebt, zumindest bei Einheimischen.
Für eine kurze Geschichtspause fährt man am besten raus aus der Stadt, zum Regenbogenberg von Palcoyo. Mineralien, die sich über Millionen Jahre gesammelt haben, verleihen ihm seine bunte Färbung. Im Gegensatz zum Vinicunca-Berg ist er weniger überlaufen und leichter zu erklimmen. Wobei, dort oben auf 4900 Metern wird die Luft dünn. „Langsam gehen, durch die Nase einatmen und viel trinken“, sagt Rodríguez, bevor er sich eine Handvoll Coca-Blätter in den Mund steckt. Die sollen gegen die Höhe helfen. Schritt für Schritt geht es zum Gipfel und dann steht man da, leicht benommen von der Höhe und der Schönheit der Landschaft. Noch nie war man dem Himmel näher.
Kurz informiert:
- Als Reisezeit eignet sich der peruanische Winter von Mai bis November, dann herrscht Trockenzeit und die Temperaturen liegen tagsüber bei um die 20 Grad.
- Direktflüge gibt es von Deutschland aus nicht. Air Europa bietet Verbindungen über Madrid nach Lima ab 890 Euro an. Von dort geht es mit dem Flugzeug weiter nach Cusco.
- In Lima übernachtet man am besten im Viertel Miraflores, auch das hippe Barranco und die Villengegend San Isidro sind einen Besuch wert. Mehr über die Geschichte Perus erfährt man im Museo Rafael Larco Herrera.
- Die meisten Reisenden kommen mit einem Veranstalter ins Land, Gebeco bietet verschiedene Rundtouren an, darunter eine 13-tägige Erlebnisreise ab 3.595 Euro inklusive Flüge und Übernachtungen.
Die Autorin recherchierte auf Einladung von Gebeco.
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