Das Buch könnte kaum aktueller sein, da sind sich alle im Raum einig. Drei Enkel lesen in der Königsbrunner Stadtbücherei aus den Erzählungen ihres Großvaters, der als Augsburger Jude floh und unter französischer Flagge Nazi-Deutschland befreite. Der Königsbrunner Literaturprofessor Klaus Wolf gab die autobiografischen Aufzeichnungen Willy Bernheims zusammen mit dessen Enkel Michael Bernheim und dem Augsburger Verleger Michael Friedrichs heraus.
Eva Bernheim lernte ihren 1959 verstorbenen Großvater als jüngste von drei Geschwistern nicht mehr selbst kennen. Die Aufzeichnungen des Großvaters, die bis 2023 auf dem Dachboden der Familie schlummerten, seien das Einzige, was sie außer ein paar Fotos von ihm habe. „Ich begreife mein jüdisches Erbe als Auftrag zur Aufklärung“, sagt die 62-Jährige, die in Augsburg im katholischen Glauben aufwuchs. Sie und ihre Familie seien Zeitzeugen 2.0 und 3.0. Denn auch die Urenkelin Bernheims ist bei der Lesung anwesend.
Autobiografie immer wichtiger, wenn Zeitzeugen fehlen
Wenn Zeitzeugen fehlten, würden solche Ego-Dokumente umso wichtiger, betont Klaus Wolf, der an der Universität Augsburg zu deutscher Literatur und Sprache in Bayern forscht. Durch einen Zufall erfuhr er bei einer Veranstaltung von dem Schatz, den Willy Bernheim seinen Nachfahren hinterlassen hatte. „Es ist eine literarisch ambitionierte Biografie und ein Identifikationsangebot für Augsburg und Königsbrunn.“ Das betont auch Bürgermeister Franz Feigl und begrüßte die rund 30 Anwesenden in der Stadtbücherei mit den Worten: „Die Verfolgung der Juden ist ein Thema, das wir immer wieder in Erinnerung rufen müssen.“ Für Jüngere sei der Zweite Weltkrieg meist nur noch ein historisches Ereignis, das aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinde. Die Enkel würden durch das Erzählen die Erinnerung bewahren.
Willy Bernheim hatte in den 1920ern eine Chemikalien-Fabrik in Augsburg, die es noch heute unter anderem Namen gibt. Er heiratete später seine Frau Gisela und ließ sich katholisch taufen. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig. 1933 wurde er wegen angeblicher Devisenverbrechen verhaftet und saß zwei Jahre im Gefängnis in Augsburg und Landsberg. Die Familie wurde enteignet. Hier beginnt das Buch „Was tue ich eigentlich in Meknes?“ aus dem sein ältester Enkel Michael beginnt zu lesen. „Das war also die letzte Nacht, der Abschluss von 25 Monaten Gefängnis“, liest Bernheim aus den Aufzeichnungen seines Großvaters. Keinesfalls blickte der Strafgefangene seiner Entlassung positiv entgegen. Denn üblich sei es gewesen, dass straffällige Juden nach ihrer Haft in Konzentrationslager überführt worden seien.
Bernheim-Enkel zieht Parallelen zur FPÖ in Österreich
Ganz so, wie es heute wieder geschehe, möglicherweise in Österreich, sei die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 durch die Installation einer demokratisch gewählten Regierung vollzogen worden, sagt Christoph Bernheim, der noch frühkindliche Erinnerungen an seinen Großvater hat. Seine Schwester Eva fährt fort und schildert aus des Großvaters Aufzeichnungen die Reichsprogromnacht und den anschließenden zwölftägigen Aufenthalt Bernheims in einem Versteck. „Nichts konnte ihn danach davon abhalten, dieses entsetzliche Land zu verlassen.“
Bernheim floh in die Schweiz und weiter nach Frankreich, wo er in die Panzerdivision Leclerc eintrat. Und in Nordafrika stationiert wurde. Bei seiner Ankunft am Bahnhof fragte er einen Kameraden: „Was tue ich eigentlich in Meknes?“. War doch sein erklärtes Ziel, so Eva Bernheim, mit Frankreich gegen Hitler zu kämpfen. Über die Normandie, Paris und Straßburg gelangt er 1945 tatsächlich wieder auf deutschen Boden. So entging er der Verfolgung der Nazis und bezahlte dennoch einen hohen Preis: die Entwurzelung. „Wo ist ein Jude zu Hause?“, fragt sein Enkel Michael. Das fragten sich heute auch viele andere Minderheiten. Flüchtlinge seien nirgendwo richtig zu Hause, ganz so wie sein Großvater damals. Früher habe Bernheim geglaubt, so hält er es fest, „Deutschland ist das schönste Land der Welt.“ Mit Grenzübertritt 1945 trübe keine Heimatliebe mehr seinen Blick, so beschreibt er es. „Ich kam und ging als Fremder.“ Bis zu seinem Tod lebte Bernheim in Paris. Seine Ex-Frau lebte mit den beiden Söhnen in München. Der Vater habe später erreicht, dass der Familie die Hälfte der Firmenanteile wieder überschrieben wurde, sagt Michael Bernheim.
Antisemitismus auch in Schulen wieder aktueller
Sie finde es toll, dass die Familie sich für die Lesung zusammenfinde und habe große Hochachtung davor, sagt Brigitte Diefenthaler, die an diesem Abend zur Lesung gekommen ist. Die Königsbrunnerin befasst sich selbst mit der Nachkriegszeit und findet es wichtig sich zu erinnern und gibt mit auf den Weg: bleibt Menschen. „In unserer Schulzeit wurde gar nicht über die Nazi-Zeit gesprochen“, sagt Ingrid Ellenrieder aus Steppach. Die 79-Jährige will in ihrer Familie die Jüngeren auf solche Zeitzeugen-Berichte hinweisen. Gina Sauer, die an der Mittelschule in Bobingen Lehrerin ist, merke bei ihren Schülern immer öfter Antisemitismus, der auch durch das Elternhaus geprägt sei. „Das ist aktueller denn je“, sagt sie.
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