
Expertin: "Jede Sucht ist eine Erkrankung, die behandelt werden kann"

Barbara Habermann ist Leiterin der Suchtfachambulanz Augsburg Land. Sie erklärt, wie erfolgreich Therapien sind und wie sich herausfinden lässt, ob man gefährdet ist.

Bald drei Jahre Pandemie liegen hinter uns. Plötzlich gab es viel unausgefüllte Zeit bei gleichzeitig wenig sozialen Kontakten. Hat die Zahl der Alkoholabhängigen durch Corona zugenommen?
Barbara Habermann: Zugenommen hat sicherlich der Konsum. Doch bis es zu einer Abhängigkeit kommt, dauert es. Wenn man, wie in der Corona-Zeit, auf sich selbst gestellt war, hat man möglicherweise schneller eine Flasche Wein geöffnet als früher. Hat jemand vor dieser Zeit schon missbräuchlich konsumiert, dann war die Gefahr, in eine Sucht hineinzurutschen, größer. Man könnte also sagen, dass die Zahl der Gefährdeten gestiegen ist. Was wir merken, ist eine Zunahme der Verhaltenssüchte, vor allem alles, was das Internet betrifft.
Können Sie Beispiele nennen?
Habermann: Darunter fällt suchthaftes Arbeitsverhalten durch fehlende Grenzen im Homeoffice, jegliche Medienabhängigkeit, Glücksspiel- oder Online-Kaufsucht. Hier entspannt oder erregt zum Beispiel der Klick auf den Warenkorb – erst einmal nichts Ungewöhnliches. Leider verliert man schnell den Überblick, vor allem den finanziellen.

Das normale Leben ist nun wieder angelaufen. Haben es Betroffene schwerer, mit ihrer Erkrankung im Alltag zurechtzukommen?
Habermann: In der Zeit der Isolation waren die äußeren Reize stark reduziert. Mit dem wiederkehrenden Alltag tritt da oft eine Überforderung ein. Im Suchtgedächtnis ist der Konsum regulativ für die Befindlichkeit gespeichert: Wenn ich dies oder jenes tat, ging es mir gut – wenn ich mich zum Beispiel in der virtuellen Welt verloren habe. Wenn jetzt wieder eine weitestgehend normale Tagesstruktur vorhanden ist, fehlt diese Zeit vielleicht, oder auch die Substanzen fehlen mir. Das alles führt zu einem Spannungsverhältnis. Für diese Menschen ist es wichtig herauszufinden, welche alternativen Bewältigungsstrategien sie für sich finden können.
Wie kann die Suchtfachambulanz helfen?
Habermann: Zunächst bauen die Berater, die selbstverständlich der Schweigepflicht unterliegen, eine Beziehung zu der betroffenen Person auf und in sogenannten Motivationsgruppen stellt sie sich selbst Fragen wie: Wo stehe ich? Habe ich ein Problem? Hier gibt es die Möglichkeit, mit Gleichgesinnten über die eigenen Probleme zu sprechen. Studie zu Tabakkonsum: Anteil junger Raucher sprunghaft gestiegen Parallel dazu läuft die Einzelberatung, in der wir gemeinsam herausfinden, ob eine Therapie stattfinden soll, wenn ja, ob ambulant, stationär in einer Fachklinik oder in Kombination – oder aber, ob eine Selbsthilfegruppe die Lösung sein kann. Eine ambulante Therapie kann direkt bei uns gemacht werden und wird wie die Beratung durch den Bezirk Schwaben finanziert. Dabei ist es allerdings wichtig zu klären, ob eine Abstinenz einzuhalten ist und inwiefern das soziale und das Arbeitsumfeld unterstützen. Vor allem im Falle eines stationären Aufenthalts ist eine Nachsorge sinnvoll, um die Rückfallwahrscheinlichkeit zu senken und wieder im Lebensalltag anzukommen.
Wenn ich selbst merke, dass ein Problem vorliegt: Was kann ich tun?
Habermann: Gehen Sie das Thema an. Ganz wichtig ist, raus aus der Heimlichkeit und den Schuldgefühlen zu kommen. Kommen Sie in die Beratung und holen Sie sich Unterstützung, vielleicht in der Gruppe, erfahren Sie, wie es die anderen machen. Verstehen Sie, dass Sie nicht alleine sind! Hinterfragen Sie sich mehr, gehen Sie ehrlich die Kriterien der Sucht durch. Lassen Sie Ihre Laborwerte beim Arzt checken und handeln Sie eigenverantwortlich. Es hilft auch, Dinge zu finden, die einem guttun. Fragen Sie sich: Woran habe ich Freude? Geben Sie diesen Dingen mehr Platz in Ihrem Leben. Was für unsere Arbeit übrigens sehr wichtig ist: Wir verurteilen niemanden, sondern stehen allen Betroffenen wohlwollend und verständnisvoll gegenüber. Jede Sucht ist eine Erkrankung. Und die gilt es zu behandeln.
Wie steht es um die Erfolgsaussichten, aus der Sucht herauszukommen?
Habermann: Die Erfolgsaussichten unserer Beratung und Behandlung sind gut. Natürlich kommen einige Betroffene dann auch irgendwann wieder, weil sie einen Rückfall erlitten. Hier muss man aber wissen, dass Rückfälle die Regel sind, nicht die Ausnahme. Sie sind auch sehr wertvoll, man kann mit ihnen arbeiten und daraus lernen, in welchen Situationen man besonders aufpassen muss.
Zur Person: Barbara Habermann, 60, wohnt in Neusäß und hat einen erwachsenen Sohn. Die Sozialpädagogin und Sozial-, Psycho-, und Familientherapeutin leitet das Referat Sucht und Psychiatrie des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg sowie kommissarisch die Suchtfachambulanzen Augsburg Land mit der Zentrale in Schwabmünchen, Sonthofen und Günzburg.
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Irgendwie erscheint es mir, dass die Masse der Menschen bei den geringsten Veränderungen nichts mehr mit sich selbst anfangen können. Auf Veränderungen zu reagieren, sich selbst zu motivieren und abzulenken, zu fordern und Veränderungen herbeizuführen, das alles scheint bei einer Vielzahl von Menschen nicht mehr möglich. Fragt man sich natürlich, warum? Und wenn ich dann lese "Mit dem wiederkehrenden Alltag tritt da oft eine Überforderung ein..." frage ich mich natürlich um so mehr, warum dies so ist. Ist denn die Menschheit bzw. Teile davon nicht mehr in der Lage, auf kleine bzw. geringe Änderungen zu reagieren? Wie soll da nur ein "Überleben" sichergestellt werden? Bei einem Leben bzw. Abhängigkeit in der Natur wäre das Ergebnis eindeutig.