Der Fußball unterliegt längst dem Datenwahn. Die Anzahl der Pässe, die Geschwindigkeit der Spieler, sogar die Rotation des Balls: Das gesamte Spiel wird vermessen. Nicht immer helfen diese Zahlen, ein Ergebnis zu verstehen. Die Frage, wie viel Ballbesitz ein Team sammelt, verrät nichts darüber, welches Team am Ende gewinnt. Weder die Zweikampfquote noch die Anzahl der Pässe steht in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit dem Ergebnis eines Spiels.
Unter Fußballstatistikern gibt es seit einigen Jahren einen Wandel: weg von den rein quantitativen Statistiken hin zu qualitativen Werten. Bei quantitativen Statistiken zählen eifrige Studenten, wie oft welches Ereignis vorkommt: die Anzahl der Pässe etwa oder die gewonnenen Zweikämpfe. Diese Zahlen sagen aber wenig aus über die Qualität der Aktionen. Ein Schuss vom Mittelkreis zählt zwar als Torschuss. Ein Tor fällt dadurch in der Regel nicht.
"Expected Goals": Ein Wert hat die Fußballwelt erobert
Der "Expected Goals"-Wert will Abhilfe schaffen. Der Grundgedanke: Ein Fernschuss aus vierzig Metern hat weniger Chancen, im Tor zu landen, als ein alleinstehender Versuch aus fünf Metern. Beim "Expected Goals"-Wert wird jedem Schuss eine Wahrscheinlichkeit auf ein Tor zugeordnet. Dazu vergleichen die Statistiker den Schuss mit tausenden Versuchen aus der Vergangenheit. Ein Elfmeter etwa landet in 76% der Fälle im Tor, er hat somit einen Expected-Goals-Wert von 0,76.
Seit dieser Wert vor rund zehn Jahren den Fußball erobert hat, hat er das Spiel verändert. Durch ihn lässt sich statistisch nachweisen, dass Fernschüsse nur selten im Tor landen. Viele Trainer haben ihren Spielern das Schießen aus der Ferne abgewöhnt. In der Bundesliga-Saison 2013/14 wurden noch 42 Prozent aller Schüsse außerhalb des Strafraums abgegeben. In der aktuellen Saison lag der Anteil bei 33 Prozent.
Markiert diese EM vielleicht eine Trendwende?
Bei dieser Europameisterschaft passiert etwas Wundersames: Der Anteil der Fernschüsse liegt mit 39 Prozent wesentlich höher als in den europäischen Top-Fünf-Ligen. Mehr noch: Es fallen wesentlich mehr Fernschuss-Tore, als wir dies aus der Bundesliga oder Premier League kennen. 19 Prozent aller Tore fielen durch Schüsse außerhalb des Strafraums; in der Bundesliga ist der Anteil halb so hoch.
Markiert die Europameisterschaft eine Trendwende? Vorsicht! Eine EM lässt nur bedingt Rückschlüsse zu auf die Zukunft des Fußballs. Dazu ist die Datenlage schlicht zu klein. 36 Spiele wurden während der Vorrunde absolviert. Umgerechnet sind das vier Bundesliga-Spieltage.
Bessere Schützen, schlechtere Abwehr: Darum gibt es so viele Fernschusstore
Gründe für die zahlreichen Fernschuss-Tore lassen sich dennoch finden. Bei der Europameisterschaft spielen die Besten der Besten. Florian Wirtz oder Nicolo Barella treffen eher aus der Ferne als Spieler aus Bochum oder Darmstadt. Zugleich ist das Niveau der Defensivreihen bei der Europameisterschaft schwächer. In den Top-Fünf-Ligen kommen die Spitzenspieler selten so frei am Strafraumrand zum Schuss.
Ein anderer Wert ist statistisch noch signifikanter: die Anzahl der Eigentore. Sieben sind schon gefallen. Das sind mehr als bei allen 15 Europameisterschaften zwischen 1960 und 2016 zusammengenommen. Ebenso interessant: Bereits bei der vergangenen Europameisterschaft 2021 gab es elf Eigentore. Der Trend ist also nicht komplett neu, sondern zieht sich über zwei Turniere.
Auffällig ist, dass bei beiden Turnieren rund drei Viertel der Eigentore nach demselben Muster gefallen sind: Ein Verteidiger lenkt eine flache scharfe Flanke ins eigene Tor. Diese Bälle sind für Abwehrspieler tückisch. Im Verein vertrauen die Spieler eher darauf, dass der Torhüter oder ihre Kollegen den Ball abwehren. In den uneingespielten Nationalteams wollen sie den Ball selbst klären – mit unbeabsichtigten Folgen. Doch auch wenn mittlerweile fast alles vermessen wird: Einen Expected-Goals-Wert für Eigentore gibt es bislang nicht.