Ex-Nationaltrainer Piontek: „Dänemark ist bekannt für seine schönen Märchen“
Sepp Piontek war viele Jahre dänischer Nationaltrainer. Er erklärt, wie Danish Dynamite nach dem Drama um Christian Eriksen den Einzug ins EM-Halbfinale geschafft hat.
Herr Piontek, Dänemark steht zum ersten Mal nach 1992 wieder im Halbfinale einer EM. Ist der Erfolg von „Danish Dynamite“ für Sie mehr als eine willkommene Überraschung?
Sepp Piontek: "Ich hätte nie erwartet, dass nach dem dramatischen Ereignis um Christian Eriksen die Mannschaft sich so aufrappeln würde. Sie stand ja regelrecht mit dem Rücken zur Wand, nachdem sie die beiden Gruppenspiele gegen Finnland und Belgien verloren hat. Natürlich gehört auch ein wenig Glück dazu, zumal ein einziger Sieg fürs Weiterkommen gereicht hat. Und die fantastische Atmosphäre im Parken-Stadion, wie ich sie selbst beim Spiel gegen Russland miterlebt habe, hat auch einen gewissen Anteil daran."
Aus dem Albtraum mit dem Herzstillstand von Eriksen ist nun ein dänisches „Sommermärchen“ entstanden. Wie kam es zu dieser beeindruckenden Entwicklung?
Piontek: (schmunzelnd) "Dänemark ist doch weltbekannt für seine schönen und lehrreichen Märchen. Warum soll da der Fußball davon ausgenommen werden? Ausschlaggebend war, glaube ich, die Tatsache, dass Eriksen selbst, nach seiner Reanimierung, den Wunsch geäußert hat, dass die Mannschaft das Turnier fortsetzen sollte. Von dem Moment an hat sich die Mannschaft regelrecht zusammengeschweißt und ist über sich hinausgewachsen. Hier kam auch die Rolle von Trainer Kasper Hjulmand zur Geltung, der mit viel Empathie das Team taktisch und psychologisch auf diese unerwartete und furchtbare Situation eingestellt hat. Er wird nicht müde zu betonen, dass die Mannschaft Christian Eriksen auf ihre Etappen mit sich trage. Jetzt scheint sie einen richtigen Schub bekommen zu haben."
Kann das Team von Kasper Hjulmand nun mit diesem Schub im Wembley-Stadion gegen den Gastgeber bestehen? Sie selbst haben dort immerhin im September 1983 mit einem spektakulären 1:0-Erfolg die Teilnahme Dänemarks für die EM 1984 in Frankreich besiegelt.
Piontek: "Das war in der Tat ein epischer Sieg im ausverkauften Wembley-Stadion, wo allerdings 14000 dänische Anhänger frenetisch unseren Erfolg gefeiert haben. Diesmal werden es leider nicht so viele sein, aber nichtsdestotrotz bin ich optimistisch, dass „wir“ das wiederholen können. Der Druck wird eher auf den favorisierten Engländern lasten, die nach 55 Jahren wieder einen internationalen Titel holen möchten. Der heilige Rasen scheint ein gutes Pflaster für Dänemark zu sein, zumal die Nationalmannschaft dort auch in der Nations League gegen die „Three Lions“ erfolgreich gewesen ist. Ich freue mich unheimlich auf das Match!"
Ehemaliger dänischer Nationaltrainer Piontek: "Die EM war ein Lichtblick"
Das EM-Turnier neigt sich dem Ende zu. Wie haben Sie eigentlich diese paneuropäische Meisterschaft, inmitten einer Pandemie, erlebt?
Piontek: "Für mich war das ein Lichtblick inmitten dieser düsteren Periode, in der es so viele Beschränkungen und Entbehrungen gab. Der Fußball hat gezeigt, dass er imstande ist, die Leute zu begeistern und für Aufbruchstimmung zu sorgen. Die Skepsis vor zu vollen Stadien und einer eventuellen vierten Infektionswelle halte ich für übertrieben."
Sie leben in der Nähe von Odense. Ist die Fußball-Euphorie momentan omnipräsent?
Piontek: "Kann man wohl sagen. Der Zusammenhalt und die Begeisterung in der Gesellschaft sind gewaltig. Ich sehe überall Leute, die das rot-weiße Trikot tragen und denen man die Zuversicht vom Gesicht ablesen kann. Man muss viele Jahre zurückblicken, um solch eine breite, positive Stimmung in Zusammenhang mit einem Sportereignis zu finden."
Ihr ehemaliger Spieler, Flemming Povlsen, sagte in einem Interview mit der SZ, dass die aktuelle Mannschaft eine Kopie jener sei, die 1992 in Schweden den EM-Titel geholt hat. Teilen Sie seine Meinung?
Piontek: "Das ist schwer zu sagen. Was mir bei der aktuellen dänischen Mannschaft imponiert, ist die Tatsache, dass etliche junge Spieler wie Maehle oder Dolberg endlich den Durchbruch auch in der Nationalmannschaft geschafft haben. Da fällt der etatmäßige Stürmer Yussuf Poulsen aus und sein Ersatzmann, Dolberg, erzielt gegen Wales einen Doppelpack. Das ist für mich ein Indiz, dass die Mannschaft sehr homogen und intakt ist. Eine weitere Parallele könnten die besonderen Umstände sein: Damals wurde die Mannschaft erst kurz vor dem Turnierbeginn zusammengerufen, jetzt musste sie sich mit dem Drama um Eriksen auseinandersetzen."
Piontek: "Preben war ein fantastischer Spieler, aber immer an der Grenze zum Rauswurf"
Wie haben Sie das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft im Achtelfinale gegen England wahrgenommen?
Piontek: "Der Auftritt der Deutschen im gesamten Turnier war eher enttäuschend. Ich habe keinen Biss und keine Aufopferungsbereitschaft gesehen, so wie bei dem WM-Erfolg 2014 oder auch bei der EM 2016. Irgendwas hat in der Mannschaft nicht mehr gestimmt. Es fehlte dieser bestimmte Geist, der dich stets begleitet und durchs Turnier trägt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass alle Spieler hinter diesem gemeinsamen Ziel standen. Es war eher eine kollektive Zwangsvorstellung."
Stimmt eigentlich die Anekdote, dass bei Ihrem Debüt als dänischer Nationaltrainer die Kabinenansprache entfiel, weil Stürmerstar Preben Elkjaer in der Toilette seine obligatorische Zigarette rauchte und der Schiedsrichter dann den Gang aufs Feld anordnete?
Piontek: (schmunzelnd) "Das war wirklich zum Lachen. Ich kannte damals dieses Ritual von Preben nicht. Erst im Nachhinein wurde ich eingeweiht, dass er vor dem Spiel, vor Aufregung, eine Zigarette benötigte. Er war wahrhaftig ein fantastischer Spieler, aber immer an der Grenze zum Rauswurf. Heute ist er TV-Experte, was absolut zu seinem Charakter passt, weil er nie um einen lockeren Spruch verlegen ist."
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