„Männer muss man eher bremsen“
Marathon Der Augsburger Martin Schöll erklärt, warum er für Hobbyläufer den Schrittmacher spielt. Am Sonntag in München ist es wieder so weit. Wer ein Vier-Stunden-Tempo laufen möchte, ist bestens bei ihm aufgehoben
Herr Schöll, beim Berlin-Marathon waren 40000 Hobbysportler am Start, in München werden 6000 Teilnehmer erwartet. Haben Sie eine Erklärung für den Mythos Marathon?
Schöll: Ich denke, das hat mit unserer Gesellschaft und der Arbeitswelt zu tun. Häufig kann man den eigenen Erfolg in der Arbeit nicht mehr sehen, das ist alles sehr abstrakt. Wenn man einen Marathon gelaufen ist, hat man das ganz alleine geschafft, man ist für den Erfolg selbst verantwortlich. Was sicher auch eine Rolle spielt: Einen Marathon zu laufen, ist etwas Besonderes, was nicht jeder schafft und wofür man bei Kollegen und Freunden Bewunderung erfährt. Der Marathon wird ja auch als Mount Everest des kleinen Mannes bezeichnet.
Viele Starter wollen sich aber nicht ganz alleine auf sich verlassen. Sie rennen Leuten wie Ihnen hinterher, die das Tempo vorgeben – obwohl die hochmoderne Sportuhr permanent Geschwindigkeit, Kilometerstand und Herzfrequenz anzeigt.
Schöll: Ja, aber das GPS der Uhren funktioniert in Städten mit eng beieinanderstehen Häusern nicht einwandfrei. Die Folge sind Fehler bei den angezeigten Kilometerzeiten. Vielen ist es auch zu stressig, permanent auf die Uhr zu schauen. Die laufen lieber einfach nur dem Mann mit dem Ballon hinterher, der gleichmäßig durchläuft.
Sie sind Spezialist für die Vier-Stunden-Marke.
Scholl: Mein Wohlfühltempo. Das laufe ich mit einem Puls von 130 bis 140 und kann dabei die Atmosphäre noch voll genießen. Meine Bestzeit liegt bei 2:58 – Puls zwischen 150 und 160, das ist stressig. Und wenn man so schnell läuft, sollte man auch nur bei zwei Marathon-Läufen im Jahr starten. Mit dem Vier-Stunden-Tempo kann ich zehn machen. Das Vier-Stunden-Tempo ist was für Vielstarter. Ich bin so einer.
Bekommt man als Pacer Geld?
Schöll: Nein, es gibt Ausrüstung vom Marathon-Sponsor. Doch deswegen mache ich das nicht.
Warum dann?
Schöll: Wegen der glücklichen Gesichter. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man seine Leute in der angepeilten Zeit ins Ziel gebracht hat und die einem dankbar dafür sind.
Was muss man für den Pacer-Job mitbringen?
Schöll: Natürlich das läuferische Potenzial, aber auch ein Gespür für die Leute. Die schließen sich dem Pacer mit den unterschiedlichsten Erwartungen an. Die einen wollen nur einen Orientierungspunkt und sonst ihre Ruhe haben. Viele brauchen darüber hinaus einen Motivator – entweder einen toughen, der sie mit Sätzen nach dem Muster „Quäl dich, du Sau“ antreibt. Anderen reicht ein „Komm, du schaffst das“. Generell gilt: Frauen muss man häufig zu einem forscheren Tempo ermutigen, Männer eher bremsen.
Gibt es Läufer, denen Sie unterwegs raten, abzubrechen oder zumindest die Zielzeit zu korrigieren?
Schöll: Ja. Ich versuche dann, dem Teilnehmer das möglichst schonend beizubringen.
Erkennt man die Wackelkandidaten bereits vor dem Start?
Schöll: Meistens schon. Wobei, man darf sich von der Optik nicht täuschen lassen. Bei manchen denkst du, die schaffen es ohne Hilfe nicht mal zum Bäcker. Und dann kommen die doch ins Ziel. Im Allgemeinen gilt aber der Spruch von Laufpapst Herbert Steffny: Vorne laufen die Bleistifte, hinten die Radiergummis.
Was wohl figürlich gemeint ist...
Schöll: Exakt. Als schlanker Läufer tut man sich einfach leichter. Noch was zu den Wackelkandidaten: Die Gespräche vor dem Start sind sehr aufschlussreich. Wenn ich von einem höre, dass er ein paar Mal 20 Kilometer gelaufen ist und jetzt den Marathon in unter vier Stunden schaffen will, zählt der zu den Wackelkandidaten. Vier Stunden – das schafft man nicht so aus dem Stand heraus. Zu einer vernünftigen Vorbereitung gehört es, in den zwölf Wochen davor mindestens zwei- oder dreimal 30 Kilometer gelaufen zu sein.
Welche Fehler werden sonst noch in der Vorbereitung gemacht?
Schöll: Immer dieselbe Hausstrecke in immer demselben Tempo zu laufen. Es fehlen neue Impulse, die wichtig sind, um besser zu werden. Ein anderer Fehler: Die langen, langsamen Einheiten werden zu schnell und die kürzeren, schnellen Einheiten zu langsam gelaufen. Der dritte Kardinalfehler: zu viel Training und zu wenig Zeit für die Regeneration. Ruhepausen und ausreichend Schlaf sind essenziell, um den gewünschten Trainingseffekt zu erzielen.
Als Pacer erlebt man bestimmt Dramen. An welches erinnern Sie sich?
Schöll: Das war vor vier Jahren in Freiburg. Ich war für 3:30 eingeteilt. Lange vor dem Start tauchte beim Treffpunkt eine Frau auf, die nervös wirkte. Ihr Mann nahm mich zur Seite und sagte: Bitte bringen Sie sie in unter 3:30 ins Ziel – sonst habe ich wieder ein Jahr lang eine schlecht gelaunte Frau im Haus.
Konnten Sie für Frieden sorgen?
Schöll: Anfangs sah alles prima aus. Bei Kilometer 38 begann sie aber zu schwächeln. Ich habe gemerkt: Das mit den 3:30 wird verdammt knapp. Weil es noch einen zweiten Pacer für 3:30 gab, konnte ich mich dann allein um die Frau kümmern. 200 Meter vor dem Ziel habe ich ihr gesagt: Jetzt müssen wir alles raus holen, wir brauchen einen Zielsprint.
Hat es gereicht?
Schöll: Meine Uhr zeigte im Ziel 3:30:00 an.
Also war alles gut...?
Schöll: Von wegen. Die Frau wollte unbedingt unter 3:30 bleiben und hatte 100 Kilometer pro Woche in den Waden. Ich sagte, sie soll das offizielle Ergebnis abwarten. Wenig später kam sie mit Tränen in den Augen auf mich zu. In der Ergebnisliste wurde sie mit 3:29:59 geführt. Später habe ich einen Dankesbrief von ihr und ihrem Mann bekommen.
Kommt es auch vor, dass der Pacer einen Schwächeanfall erlebt?
Schöll: Einmal ist mir das passiert. Wahrscheinlich hatte ich etwas Falsches gegessen. Bei Kilometer 30 musste ich den Leuten sagen: Sorry, jetzt müsst ihr alleine weiterlaufen.
Die Kilometer 30 bis 35 gelten als kritisch, weil hier „der Mann mit dem Hammer“ lauert. Ist das Kopfsache?
Schöll: Wenn „der Mann mit dem Hammer“ zuschlägt, hat das nichts mit dem Kopf zu tun. Dann geht einfach nichts mehr. Das ist eine Art Selbstschutz. Ursache ist der Kohlenhydratmangel. Es haut dir den Puls runter, der Körper schaltet auf einen Notfallmodus. Manchmal hilft es, eine kleine Pause einzulegen. Das ist das Schöne an so einem Stadtmarathon wie in München: Man setzt sich hin, neben einem trommelt vielleicht ein kleines Mädchen auf einen Topf und munter einen auf. Und plötzlich geht es wieder. Interview: Roland Wiedemann
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