Nickt Woltemade dürfte ein Stürmer ganz nach dem Geschmack von Hans-Joachim Watzke sein. Zum einen, weil der Stürmer beständig trifft und es Watzke als DFB-Vizepräsident gut gefällt, wenn die eigene Nachwuchsmannschaft davon profitiert. Zum anderen besitzt der Stürmer, der noch beim VfB Stuttgart unter Vertrag steht, Fähigkeiten, die das fußballromantische Herz höher schlagen lassen. Da dribbelt einer elegant und doch unorthodox an seinen Gegenspielern vorbei, schließt mit beiden Füßen ab und stört sich auch nicht daran, mit der Spitze gegen den Ball zu kicken. Straßenfußballer wurden derartige Typen dereinst genannt.
Watzke stammt aus einer Zeit, in der es kaum eine andere Möglichkeit gab, außer auf der Straße das Fußballspielen zu erlernen. Als Vereinsboss von Borussia Dortmund konnte er sich nur schwer daran gewöhnen, dass die Spätergeborenen fortan ihre fußballerische Ausbildung in Nachwuchsleistungszentren genießen sollten. Weil aber Preziosen wie Mario Götze oder Jamie Gittens der Jugendabteilung entsprangen, ward Watzke zufriedengestellt. Vor zwei Jahren aber sah Watzke den Zeitpunkt gekommen, fundierte inhaltliche Kritik an der Trainings- und Spielkonzeption im Kinderalter zu äußern.
Watzkes sparte nicht mit Polemik
„Es gab ja auch die Diskussion, nicht mehr auf Tore zu spielen. Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball“, sagte Watzke zu den Plänen des für den DFB-Nachwuchs zuständigen Sportdirektors Hannes Wolf. „Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft. Ich glaube, dass das grundsätzlich der falsche Ansatz ist“, so Watzke in einer an Polemik nicht armen Gegenrede. „Unfassbar und für mich nicht nachvollziehbar“, sei das Wolf-Konzept und daher kündigte er eine Reform der Reform an: „Das haben wir gerade beschlossen.“ Das Problem daran: Nichts war beschlossen. Es folgte auch keine weitere Reform.
Und doch darf sich Watzke mittlerweile ein wenig im Recht sehen. Seit Jahren warnen die Experten vor einem massiven Fachkräftemangel auf dem Rasenviereck. Dem Torwartland Deutschland entsprängen keine Torwarte mehr, echte Mittelstürmer seien echte Mangelware und generell fehle es der Breite an der Spitze an Dichte. Oder so. Deswegen ja die Reformen. Jüngere Kinder sollen in kleineren Mannschaften spielen. Mittlerweile spielen deutschlandweit Sechsjährige im drei gegen drei auf vier Tore gegeneinander. Minifußball nennt sich das. An den Festivals nehmen etliche Mannschaften teil, eine Tabelle gibt es nicht. Dafür steigt die Gewinnermannschaft ein Feld auf, die Verlierer ein Feld ab. „Wenn du als Sechs-, Acht- oder Neunjähriger nie das Gefühl hast, was es ist, zu verlieren, dann wirst du auch nie die große Kraft finden, um auch mal zu gewinnen. Wenn wir Angst haben, dass ein Achtjähriger komplett aus dem Lebensgleichgewicht geworfen wird, weil er mal 5:0 mit seiner Mannschaft verliert, dann sagt das auch sehr viel über die deutsche Gesellschaft aus“, spannte Watzke damals den großen Bogen.
Der deutsche Fußballnachwuchs ist überraschend erfolgreich
Nun steht am Samstag die U21-Nationalmannschaft im Finale der Europameisterschaft und könnte mit einem Sieg gegen England den insgesamt vierten Titel bei dem kontinentalen Turnier gewinnen (21 Uhr, Sat.1). Woltemade hat früher kein Minifußball gespielt, Paul Nebel ebenso wenig und Brajan Gruda auch nicht. Trotzdem können sie in die Fußstapfen von Manuel Neuer, Jerome Boateng und Mesut Özil steigen, die 2009 den Titel gewonnen hatten. Letztmals gewannen die Deutschen 2021 das Turnier, damals unter anderem mit Florian Wirtz, Karim Adeyemi und Jonathan Burkardt. Bei den vergangenen sechs U21-Europameisterschaften standen die Deutschen nur einmal nicht im Halbfinale. Möglicherweise ist es um den deutschen Nachwuchs nicht so schlecht bestellt, wie oft vermutet. Zuletzt stand ja auch die U19 des DFB im Halbfinale der EM und schied nur äußerst knapp gegen Spanien aus.
Klar ist aber auch, dass vor allem in Frankreich und England viel mehr Spieler den Weg in den Profifußball schaffen. Dass in diesen beiden Ländern sowie in Spanien die Kinder und Jugendlichen technisch im Schnitt besser ausgebildet sind. Nick Woltemade ist eine Ausnahmeerscheinung. Typen wie ihn wird es immer geben. Ihr Weg ist unaufhaltsam. Die meisten anderen Spieler aber profitieren von stimmigen Ausbildungskonzepten. Die scheinen in der Vergangenheit nicht nur schlecht gewesen zu sein. Das Bessere aber ist der Feind des Guten. In der Konzeption, in der Ausbildung und: auf dem Platz. Am Ende liegt dort die Wahrheit. Würde auch Watzke sagen.
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