Ein bisschen Ablenkung kann nicht schaden. Und Abkühlung ist dieser Tage auch in der Schweiz willkommen. Wenige Tage vor dem EM-Auftaktspiel gegen Polen (Freitag 21 Uhr/ARD) haben die deutschen Fußballerinnen erst eine Bootstour auf dem Vierwaldstättersee unternommen, ehe es mit einer Zahnradbahn auf die Rigi ging, die Königin der Berge, wo traditionelle Alphörner nicht fehlten. Ein Zeitvertreib, der offenbar gut angekommen ist, wie Jule Brand am Mittwoch berichtete: „Wir haben es genossen, die Natur zu sehen und die Schweiz kennenzulernen: ein schöner Tag.“ So locker sie sich beim morgendlichen Training im Sportzentrum Buchlern durch die Stangen bewegt hatte, so gelöst gab sie sich zur Mittagszeit im klimatisierten ersten Stock des Folium der Züricher Innenstadt.
Es hatte erheiternden Charakter, wie die 22-Jährige bei der Pressekonferenz auf eine spöttische Bemerkung der Kapitänin Giulia Gwinn aus der ARD-Doku „Shootingstar“ reagierte, die gesagt hatte: „Wenn bei Jule der Kopf nicht angewachsen wäre, würde sie ihn schon mal vergessen.“ Sie sei keineswegs sauer über solch einen Spruch: „Ich würde sagen, ich bin vielleicht etwas verpeilt.“ Alleine zu wohnen habe ihr geholfen, selbstständiger zu werden, dennoch sei sie „immer noch tollpatschig“.
Mit 22 Jahren zählt Jule Brand bereits zu den erfahrenen Spielerinnen
Brand sieht sich in der Pflicht, bei ihrem vierten Turnier einen Reifeprozess bezeugen. Die Nummer 22 ist nicht mehr das Küken. „Ich bin ein bisschen erwachsener geworden, habe ein anderes Mindset. Ich gehöre nicht mehr zu den Jungen.“ Doch auch nach 60 Länderspielen schwankt sie bisweilen noch zwischen Genie und Wahnsinn – nur nicht mehr so extrem wie früher. Sie weiß, dass sie im EM-Finale 2022 gegen England (1:2 n.V.) die Bälle verstolperte: „Ich war noch nie so nervös. Ich hätte mir gewünscht, ich hätte das mehr genießen können.“ Oder sich bei der WM 2023 gegen Kolumbien (1:2) und Südkorea (1:1) in sinnfreien Solos verrannte. „Ich wollte mit dem Kopf durch die Wand.“
In jener Zeit wirkte nicht nur ihr Spiel wenig überlegt, sie schien auch schlecht beraten, integrierte sich nach ihrem Wechsel 2022 von der TSG Hoffenheim beim VfL Wolfsburg mehr schlecht als recht. Ralf Kellermann wagte es im Herbst 2023, den Shootingstar öffentlich zu rüffeln. Der VfL-Direktor kritisierte nicht nur ihre Zweikampfschwäche, sondern auch die Grundhaltung: „Wenn Jule eine Top-Spielerin werden will, muss sie hart an sich arbeiten und zu einhundert Prozent für den Fußball leben.“
Jule Brand ist schon durch einige Täler gegangen
Brand hat über die Höhen und Tiefen ihrer Karriere viel nachgedacht. Herausgekommen ist für die EM diese Losung: „Je weniger wir im Kopf haben, desto besser performen wir. Ich will einfach konstant spielen und dem Team helfen, mit Assists, mit Toren.“ Für Bundestrainerin Christian Wück kann die Flügelzange mit Klara Bühl und Brand den Unterschied machen, doch gerade Brand bedürfe einer besonderen Behandlung: „Wenn wir Jule zu eng in ein Netz spannen und ihr sagen würden: Du darfst das und du darfst das, aber das darfst du nicht – dann würden wir ja komplett ihre Stärke rauben.“
Ihr Talent ist ja unbestritten. Monatelange buhlten mehrere Topvereine um ihre Dienste. Letztlich erhielt der Champions-League-Rekordsieger Olympique Lyon den Zuschlag. Sie wolle raus aus der Komfortzone, sagte Brand wiederholt zu ihrem Wechsel nach Frankreich. „Ich kenne keinen dort, ich habe sehr viel Respekt davor. Aber ich weiß einfach, dass ich das brauche.“
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden