Eines der dauerhaften Überbleibsel der Ära von Thomas Tuchel beim FC Bayern ist der Begriff „Thomas-Müller-Spiel“. Nicht jedes Spiel, betonte der heutige englische Nationalcoach vor eineinhalb Jahren, sei nämlich ein Müller-Spiel. Das hänge damit zusammen, dass der Weltmeister nach Jahren des permanenten Einsatzes nicht noch in jedem Spiel die Knochen hinhalten könne, zudem gebe es ja immer noch taktische Überlegungen und all so ein Zeugs. Im Vorfeld der Partie am Dienstagabend gegen Inter Mailand hatte sehr viel dafür gesprochen, dass es ein Müller-Spiel wird: Viertelfinale der Champions League, Musiala verletzt, das erste Spiel nach dem wenig ruhmreichen Bekanntwerden der Trennung zwischen Spieler und Verein am Saisonende. Tuchels Nachfolger Vincent Kompany entschied anders, statt der scheidenden Vereinsikone beorderte er Raphaël Guerreiro in die Offensiv-Zentrale. Das 1:2 gegen Inter Mailand wurde aber dennoch zu einem Müller-Spiel.
Denn die Sehnsucht danach, den 35-Jährigen auf dem Platz zu sehen, war bei knapp 75.000 Zuschauern (einige Mailänder Fans mal ausgenommen) fast mit Händen zu greifen. Schon als bei der Mannschaftsaufstellung sein Name verlesen wurde, war das „Müller“ so deutlich zu hören wie bei keinem anderen Spieler. Als der Mensch gewordene FC Bayern nach 74 Minuten dann endlich den Platz betrat, erhoben sich die Zuschauer und intonierten ein weiteres Mal den Namen, der so gewöhnlich und doch so besonders ist, wenn er in der Münchner Arena zu hören ist. Und dann gab es sogar noch ein drittes Mal die Gelegenheit für tausende Kehlen, „Müller“ zu schreien – als Müller tat, was er so oft schon getan hatte: Er traf tatsächlich für die Bayern, zum 1:1-Ausgleich.
Thomas Müller ist nun sechstbester Torschütze der Champions League
Müller gelang das, was seine Mitspieler in den 84 Minuten zuvor nicht geschafft hatten, trotz stellenweiser bester Chancen. Eine der Preisklasse „100 Prozent“ hatte Harry Kane in der 26. Minute liegen lassen. Freigespielt von Michael OIise, hatte sich der Engländer die Ecke aussuchen können, wählte das lange Eck und traf den Pfosten. Kanes lapidarer Kommentar: „Das kommt nicht sehr oft vor, aber so ist das Leben eines Stürmers.“ Das andere Lebensextrem eines Stürmer erlebten wenig später seine Kollegen im Inter-Trikot. Marcus Thuram hatte technisch perfekt auf den nachgerückten Lautaro Martinez abgelegt. Der Argentinier beförderte den Ball mit dem Außenrist in den Bayern-Kasten - ein Traumtor (38.).
Und dann? Mühten sich die Bayern um Spielkontrolle, erlangten diese Mitte der zweiten Hälfte erst wieder und hatten dann zwar wieder Chancen, verwerteten diese jedoch nicht. Bis ebendieser Müller kam und traf. Es war sein 57. Tor in der Champions League, womit er einen gewissen Ruud van Nistelrooy überflügelte und nun auf Platz sechs der ewigen Königsklassen-Torjägerliste zu finden ist. Vor ihm stehen nur noch die Herren Ronaldo, Messi, Lewandowski, Raul und Benzema. Müllers Jubel fiel ekstatisch aus. Mancher mochte, weil er in Richtung Haupttribüne ausfiel, sogar einen dezenten Gruß in Richtung Vereinsführung erkannt haben. War es nicht, versicherte Müller nach Spielende: „Die Schilddrüse hat geackert wie blöd und hat irgendwas ausgeschüttet. Ansonsten habe ich nicht viel nachgedacht.“
Beim 1:2 leisteten sich gleich drei Bayern-Profis dicke Böcke
Ansonsten hielt sich die Euphorie Müllers in engen Grenzen, was vor allem am Schlusspunkt dieser Partie gelegen haben dürfte: Davide Frattesi nutzte eine kollektive Unordnung der neu formierten Bayern-Abwehr, in der sich mit Josip Stanisic, Leon Goretzka und Sacha Boey gleich drei Profis dicke Patzer leisteten, zum bitteren 1:2-Schlusspunkt. Was heißt das nun für das Rückspiel in Mailand in der kommenden Woche? Laut Müller wenig. „Wir haben jetzt ein Tor Unterschied. Das ist im Fußball gar nichts. Das ist eine Aktion“, gab er sich mit der Erfahrung von 162 Spielen in der Königsklasse kämpferisch. Seiner eigenen Rolle als Bankdrücker wollte er keine allzu große Bedeutung zumessen: „Wichtig ist, dass ich das ausstrahle, dass es um das große Ganze geht.“ Schon in der kompletten Spielzeit sei es eher seine Rolle gewesen, seine Mitspieler zu unterstützen und auf dem Feld einen Impuls zu geben, wenn es gefragt war. Eine Rolle, die er auch gerne in der kommenden Saison gespielt hätte – wenn ihn der Verein denn gelassen hätte.
Den Verzicht auf Müller erklärte sein Trainer Kompany nach Spielende mit taktischen Überlegungen: „Jede Entscheidung, die getroffen wird, war rein fußballerisch.“ Mit Guerreiro erhoffte er sich Torgefahr und mehr defensive Stabiliät - der Portugiese blieb aber blass. Dass Müller nach seiner Einwechslung gleich getroffen habe, sei natürlich schön gewesen, sagte Kompany und fügte an: „Thomas hat ein Gefühl für Räume – ich hoffe, dass er das noch oft für uns zeigt.“ Dazu bedarf es bekanntlich besagter Thomas-Müller-Spiele. Am besten in der kommenden Woche in Mailand.
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