Die Weltmeisterschaft 2006 weckte meine Leidenschaft für Taktik. Das ZDF hatte einen jungen, aufstrebenden Fußballtrainer namens Jürgen Klopp verpflichtet. Der damalige Trainer des FSV Mainz 05 erklärte den Fans nach einem Gegentor, wieso nicht der Abwehrspieler Schuld hatte – sondern der Sechser, der im Mittelfeld hätte einrücken müssen. Von da an faszinierten mich Formationen, taktische Prinzipien und Matchpläne.
Seit ich mich erstmals für Taktik interessierte, gab es einen Leitsatz: Der Fußball von Nationalmannschaften ist taktisch weniger spannend als der von Klubteams. Das ist logisch: Klubtrainer können ihren Spieler Woche für Woche taktische Winkelzüge beibringen. Die Spieler kennen sich, das Zusammenspiel funktioniert fast blind. Nationaltrainer hingegen verbringen nur wenige Tage im Jahr mit ihren Spielern. Da bleibt höchstens Zeit für die Grundlagen.
Oft stand bei Nationalmannschaften die Defensive im Fokus
In der Vergangenheit setzten die meisten Nationalteams auf wenig komplexe Spielsysteme. Bei vielen Nationaltrainern stand die Defensive im Fokus. Die Spieler verschoben im Block, Kompaktheit und Stabilität waren das oberste Gebot. Die Europameisterschaft 2016 war der Tiefpunkt dieser Entwicklung: Gerade einmal 2,12 Tore fielen pro Spiel.
In den vergangenen Jahren wandelte sich der Nationalmannschaftsfußball jedoch. Taktik bedeutet nicht mehr nur, die eigene Defensive zu stärken. Immer mehr Nationaltrainer nehmen die aktuellen Trends des Vereinsfußballs auf. Dort hat sich besonders das Ballbesitzspiel weiterentwickelt. Trainer geben ihren Spielern genau vor, wo sie sich zu welchem Zeitpunkt des Spiels positionieren sollen. Viele nehmen sich Pep Guardiolas Fußball zum Vorbild.
Gleich mehrere Trainer dieser Europameisterschaft haben den Anspruch, mit ihren Teams den Gegner zu dominieren. Julian Nagelsmann ist hier das beste Beispiel. Er ist bekannt dafür, komplexe taktische Systeme zu entwerfen. Das macht er auch bei der DFB-Elf. Der italienische Trainer Luciano Spalletti gewann im vergangenen Jahr mit Napoli die Serie A – dank eines ausgefuchsten 4-3-3-Systems. Auch der Coach der Slowaken, Francesco Calzona, hat einst bei Napoli gearbeitet. Er überraschte Belgien beim 1:0-Sieg mit einem hohen 4-3-3-Pressing. Sie alle setzen ihre komplexen taktischen Ideen auch auf Ebene der Nationalteams um.
Viele Nationen bei dieser EM wandeln ihre Formation bei Ballbesitz zu einem 3-2-2-3 um; es ist die Variante, die Guardiola häufig mit Manchester City spielt. Die Spieler halten jedoch nicht starr ihre Positionen. Gerade die Außenverteidiger rennen nicht mehr stur die Linien hinunter. Sie wagen sich häufig ins Zentrum. Ihre Rochaden mit den eigenen Außenstürmern verwirren so manchen Gegner.
Spieler können taktische Konzepte besser umsetzen
Das alles sind recht komplexe taktische Mittel. Dass selbst Nationalteams diese Ideen trotz beschränkter Trainingszeit umsetzen können, zeugt von der hohen taktischen Kompetenz der Spieler. Praktisch jeder Spieler bei dieser EM hat ein Nachwuchsleistungszentrum besucht, die gesamte Kindheit und Jugend stand im Zeichen des Fußballs. Es fällt den Spielern leichter als früheren Generationen, selbst komplexe taktische Vorgaben umzusetzen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass plötzlich alle Mannschaften taktisch spannenden Offensivfußball spielen. Englands Trainer Gareth Southgate ist die Gegenthese zu Nagelsmann und Spalletti. Kein Nationalteam vereint mehr Talent als die Engländer. Trotzdem verharrten sie beim knappen 1:0 gegen Serbien im tiefen 4-1-4-1. Defensive Kompaktheit stand bei ihnen im Vordergrund.
Wer weiß, vielleicht hat Southgate mit seinem "Defensive first!"-Ansatz am Ende Recht. Bis dahin genieße ich die taktische Vielfalt dieser Europameisterschaft.