Warum Joachim Löw Zweifel an seinem Team fremd sind
Joachim Löw besitzt ein Ausnahmetalent. Der deutsche Bundestrainer wird ruhiger, je aufgeregter das Umfeld ist. Und das Umfeld ist derzeit sehr aufgeregt.
Zwei Spiele hat die Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft absolviert, zwei Mal blieben die Offensivspieler ohne Torerfolg. Gegen Polen konnten sie sich noch nicht einmal Chancen herausspielen. Dagegen ist der drohende Brexit lediglich ein Luxusproblemchen.
Es war klar, dass die Offensivflaute Kritik hervorruft. Dabei unterscheidet Löw klar zwischen internen Zwischenrufen, wie jenen von Jerome Boateng, die der Bundestrainer als konstruktiven Einwurf goutiert, und Aussagen der Experten, die Löw als unzulässige Störung empfindet. "Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht", reagierte er auf die Sorgen von Michael Ballack. Der ehemalige Kapitän hat im englischen Fernsehen die grundsätzliche Eignung seiner Nachfolger angezweifelt. Seiner Meinung fehle es der Mannschaft "ein wenig an Persönlichkeit und Charakter". Richtig lustig fand Löw den Einwand Ballacks aber nicht. "Wäre ich Außenstehender, wäre ich ganz ruhig", mahnte er seinen ehemaligen Spieler.
Was ist los mit der deutschen Mannschaft?
Gleichwohl formulierte Ballack offen jene Sorge, die auch die Stammtische umtreibt: Was ist los mit der deutschen Mannschaft? Die ersten beiden Auftritte bei der EM lassen in der Tat an der Titeltauglichkeit der Mannschaft zweifeln. Doch Zweifel sind Löw derzeit fremd. Zu vertraut ist er mit seinen Spielern, zu bekannt sind ihm die Reflexe, die eine Großveranstaltung bei der breiten Öffentlichkeit auslöst. Er erinnerte an die vergangene WM: "Da hieß es, wir haben keine Führungsspieler. Dann sind wir Weltmeister geworden. Plötzlich waren alle diese Spieler - Schweinsteiger, Hummels, Boateng, Müller und Neuer - die großartigen Leader dieser Mannschaft." Teammanager Oliver Bierhoff hingegen kann der Diskussion sogar positive Gesichtspunkte abgewinnen. "Es ist doch schön, wenn die Nationalmannschaft im Mittelpunkt steht. Wir können die Situation aber auch einschätzen. Was wurde nicht alles nach dem Algerien-Spiel bei der WM geschrieben", erinnert er an das mühevoll gewonnene Achtelfinale.
Diskussion um Führungsspieler
Dass die alte Diskussion um Führungsspieler nun von Neuem geführt wird, berührt den Bundestrainer daher nicht. "Überrascht bin ich über gar nichts mehr", so Löw. Rund 45 Minuten nahm sich der Bundestrainer am Samstag für seine Rede zur Lage der Fußballnation Zeit. Er war damit einer von wenigen aus dem Tross des DFB, der arbeiten musste.
Seinen Spielern hatte er einen freien Tag verordnet. Dieser sei aber nicht etwa spontan eingeschoben worden, um einer kriselnden Mannschaft die Chance zu geben, auf schöne Gedanken zu kommen. Die Turnier-Freizeit war schon lange Zeit vorgesehen. "Wir sind hier schon längerer Zeit zusammen in Evian, da tut ein Tag ganz gut, an dem man auch einmal runterfahren kann", begründete der Coach die Maßnahme.
Er selbst hingegen bereitete sich bereits auf den kommenden Gegner vor. Am Dienstag tritt die deutsche Mannschaft im abschließenden Gruppenspiel gegen Nordirland an. Es geht dabei um den Gruppensieg, im ungünstigsten Fall kann das Team sogar noch ausscheiden. Doch daran denkt Löw nicht einmal. Offenbar hat ihm eine erste Analyse des kommenden Gegners wenig Angst gemacht, "Wir wollen das Spiel gewinnen und Gruppenerster werden und das werden wir auch schaffen", ist sich der Coach sicher.
Auf allzugroße Umbaumaßnahmen wird er wohl im Vergleich zu den ersten beiden Partien verzichten. Mit Leroy Sane, Joshua Kimmich und Julian Weigl dürfen sich die drei Neulinge im Kader kaum Hoffnungen machen, in die Startelf zu rücken. Die drei würden zwar "alles mitbringen, was man braucht", lobt Löw artig, allerdings bedürfe es auch des richtigen Augenblicks, um eingesetzt zu werden. Bei einer EM herrsche eben eine ganz besondere Drucksituation und in dieser will der Bundestrainer dem Trio keinen Stresstest zumuten. Es wird ja nicht jeder ruhiger, je aufgeregter das Umfeld ist.
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