Stefan Leitl: „Fußball-Profis haben keinen Sonderstatus“
Der Cheftrainer spricht im großen NR-Interview in beeindruckender Art und Weise über das „Geschäft“ Fußball, seine Bodenständigkeit, die Umstellung vom Spieler zum Coach sowie die allgemeine Sichtweise auf den FCI
Herr Leitl, welche Erinnerungen haben Sie an Trainingslager aus Ihrer aktiven Zeit als Spieler?
Leitl: Ich erinnere mich eigentlich sehr gerne daran. Natürlich war es immer eine intensive und anstrengende Zeit – aber auch eine schöne! Man ist mit der Gruppe zusammen, lernt sich besser kennen, ist mal von zuhause weg und kann sich voll und ganz auf den Fußball konzentrieren. Auch die vielen Gespräche mit den Teamkollegen zwischen den Einheiten habe ich genossen. Wenn es dann dem Ende der Karriere entgegengeht, macht man sich schon etwas wehmütig seine Gedanken.
Wenn Sie mit einigen Jahren Abstand auf Ihre Spielerkarriere zurückblicken: Sie haben unter anderem nicht nur fast 200 Partien in der 2. Liga, sondern auch fünf Begegnungen in der Bundesliga für den 1. FC Nürnberg absolviert. Haben Sie heute dennoch das Gefühl, als Spieler irgendetwas „verpasst“ zu haben?
Leitl: Ich denke, dass man hier differenzieren muss. Die von Ihnen in der Frage genannte Bilanz zeigt einerseits schon, dass man in seiner Laufbahn einiges erreicht hat. Vielen anderen Fußballern ist es nie gelungen, überhaupt einmal in der ersten oder zweiten Liga zu spielen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute, die mich in meiner Karriere begleitet haben und nach wie vor behaupten, dass es auch 150 oder 200 Einsätze in der Bundesliga hätten sein können. Letztlich war ich in gewissen Phasen meiner aktiven Laufbahn vielleicht einfach noch nicht so weit, um diesen Schritt zu gehen. Fußballerisch wäre es wahrscheinlich schon möglich gewesen.
Hätten Sie auch gerne einmal im Ausland gespielt?
Leitl: Ja, definitiv! Ich hatte sogar zweimal die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. Heute bereue ich es, dass ich diese Chancen leider nicht genutzt habe.
Trotz allem kann sich Ihre aktive Laufbahn mehr als sehen lassen. Sie haben nicht nur viele Jahre hochklassig gespielt, sondern dabei auch größtenteils sehr ordentlich verdient. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen sind Sie dennoch immer extrem bodenständig und authentisch geblieben. Liegt der Grund hierfür in Ihrer Familie beziehungsweise Erziehung?
Leitl: Auf alle Fälle. Zunächst einmal bin ich nicht im Luxus groß geworden. Darüber hinaus war ich der Jüngste von insgesamt fünf Brüdern. Aufgrund der Tatsache, dass der Altersunterschied zu ihnen schon relativ groß und ich somit das „Nesthäkchen“ war, bin ich schon etwas anders behandelt worden. Ich bin sowohl durch meine Eltern als auch Brüder sehr behütet aufgewachsen. Und genau diese Bodenhaftung wurde mir durch meine gesamte Familie von Anfang an vermittelt. Mir ist bewusst, dass ich das große Glück hatte, mein Hobby zum Beruf zu machen. Auch wenn man in diesem Bereich sicherlich viel Geld verdienen kann, hat man in meinen Augen – nur weil man Fußball-Profi ist – keinen Sonderstatus. Und genau das sollten wir alle auch vorleben.
Können Sie dennoch nachvollziehen, wenn Jung-Profis, die ihren ersten Gehaltszettel bekommen, genau diese Bodenhaftung schnell verlieren?
Leitl: Ich glaube nicht, dass das einzig und alleine an den Spielern liegt. Mittlerweile ist das Ganze ein großes Geschäft und Business geworden. Es wird mittlerweile derart viel Geld im Fußball verdient – und jeder möchte Teil dieser Branche sein. Der Einfluss von Beratern, gerade auch schon auf junge Akteure – hat immer stärker zugenommen. Und wissen Sie, was ich in diesem Zusammenhang noch sehr schade finde?
Sagen Sie es uns!
Leitl: Die fehlende Identifikation! Ich meine damit Spieler, die sich bewusst für einen Verein entscheiden und bei diesem auch den Großteil ihrer Karriere verbringen. Ich bin jetzt seit zwölf Jahren beim FC Ingolstadt. Für mich hat einfach das Gesamtpaket hier in all den Jahren immer wieder aufs Neue gepasst. Leute wie Bastian Schweinsteiger oder Philipp Lahm, die dem FC Bayern ewig die Treue gehalten haben, oder auch ein Marco Reus bei Borussia Dortmund beeindrucken mich, der trotz aller Lockrufe anderer Klubs stets beim BVB geblieben ist. So etwas vermisse ich heutzutage einfach. Ich würde mir wünschen, dass es künftig wieder vermehrt in diese Richtung geht.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hören, dass ein Neymar für 222 Millionen Euro und Kylian Mappé für 180 Millionen Euro zu Paris St. Germain wechseln oder Cristiano Ronaldo künftig bei Juventus Turin über 30 Millionen Euro verdienen soll?
Leitl: Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich da absolut nicht neidisch bin. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass jeder Mensch auf dieser Welt ein 100-Millionen-Euro-Angebot eines Arbeitgebers – unabhängig von der Branche – annehmen würde. Das ist völlig legitim! Das Hauptproblem habe ich ja zuvor schon angesprochen: Beim Fußball ist einfach unfassbar viel Geld im Umlauf. Um das Ganze zu steuern, gibt es aus meiner Sicht letztlich nur eine Möglichkeit: Die Ablösesummen für Spieler zu deckeln. Wenn man sich überlegt, dass man für einen Menschen 200 Millionen Euro bezahlt - für dieses Geld könnte man beispielsweise ein armes Land bereits sehr gut versorgen. Das ist schon verrückt. Wir werden es jedoch aufgrund unserer Gesellschaft nicht ändern können.
Haben Sie den Eindruck, dass es den Fußball, wie Sie ihn einst kennengelernt haben, noch gibt oder steht mittlerweile das ganze Drumherum mit seiner Show und seinem Glamour mehr im Vordergrund?
Leitl: Das hat sich absolut gedreht! Viele Menschen gehen heute vor allem ins Stadion, weil sie ein Event erleben wollen. In Deutschland ist das definitiv der Fall. Diese Identifikation und bedingungslose Hingabe für einen Verein ist im Ausland mit Sicherheit stärker vorhanden als bei uns.
Um beim Thema Veränderungen zu bleiben: Wie hat sich eigentlich Ihr Leben vom Spieler hin zum Trainer verändert?
Leitl: Um 180 Grad (lacht). Natürlich weiß man als Spieler, dass der Körper sein Kapital ist. Darauf musst du tagtäglich 24 Stunden lang achten. Aber in der Regel kommt man um 9.30 Uhr zum Training, geht dann auch das eine oder andere Mal während der Woche gegen 12.30 Uhr nach Hause und hat den Nachmittag für sich und seine Familie. Mein Assistent Andre Mijatovic und ich leben diesen Trainer-Job schon sehr intensiv. Wir sind im Normalfall in der Früh mit die Ersten im Büro und auch spätabends noch da. Man trägt die Verantwortung für die Jungs und die gesamte Truppe. Wir wollen dem auch gerecht werden – und das schaffst du nur, wenn man Präsenz zeigt, für die Spieler da und permanent ansprechbar ist. Vom Zeitaufwand her ist das überhaupt nicht mehr miteinander zu vergleichen.
Wie ist Ihre Familie mit dieser – wie beschrieben – doch sehr großen Umstellung umgegangen?
Leitl: Für mich hat es nie einen Unterschied gemacht, ob ich jetzt die U17, U23 oder Profis trainiere. Ich habe meinen Job stets sehr intensiv vorgelebt und beispielsweise auch als U17-Coach nicht gemütlich zurückgelehnt. Wir haben schon immer darauf geachtet, dass wir sowohl die Spieler als auch uns selbst entsprechend fordern.
Was hat die Familie dazu gesagt?
Leitl: Für die Familie war es zu Beginn sicherlich nicht einfach. Als Spieler war der Papa schließlich viel öfter da. Was aber für mich schon sehr wichtig ist: Bis zu Beginn meiner Trainer-Tätigkeit habe ich das Fundament des Großwerdens meiner Kinder mitbekommen beziehungsweise aktiv mitgestaltet. Letztlich ist diese Trainer-Geschichte ja auch eine gemeinsame Familien-Entscheidung, die wir nach meiner Spieler-Karriere zusammen getroffen haben.
War für Sie mit dieser Entscheidung auch klar, dass Sie den Trainer-Weg „richtig“ einschlagen wollen, um später einmal im Profi-Senioren-Bereich zu arbeiten?
Leitl: Das war für mich von Anfang an die Voraussetzung, dass ich es überhaupt mache. Natürlich hätte ich beispielsweise auch zehn Jahre lang im NLZ beim FC Ingolstadt bleiben und arbeiten können. Aber mein Ziel und Anspruch war es immer, einmal den Job des Chef-Trainers bei einem Bundesliga-Klub zu übernehmen – am Liebsten beim FC Ingolstadt, was mein großer Wunsch war. Und jetzt bin ich hier (lacht). Ich weiß aber auch, dass das Ganze dadurch endlich ist. Irgendwann wird es vorbei sein.
Als Spieler kann man sich über eine Niederlage tagelang ärgern und seinen Emotionen nahezu immer freien Lauf lassen, während man als Trainer in der Regel immer sofort Ruhe, Souveränität ausstrahlen und den Analytiker geben soll. War das für Sie zu Beginn mit die größte Herausforderung?
Leitl: Ja, das würde ich definitiv bestätigen, da ich ja schon eher ein emotionaler Typ bin. Als Spieler war ich schon jemand, der nicht lange herumgeiert, sondern das Kind beim Namen genannt hat. Als Trainer musst du schon ein Gefühl für die Situation bekommen. Nichtsdestotrotz denke ich aber, dass ich authentisch und mir dementsprechend treu geblieben bin – ohne dabei den Blick für das Ganze zu verlieren! Im Grunde hat man in einer Partie 90 oder 95 Minuten Zeit, den nächsten Tag zu bestimmen. Bei einem Sieg habe ich ein schönes Wochenende, bei einer Niederlage ist das Gegenteil der Fall. Im Fußball gibt es keine Grauzone, sondern nur Schwarz oder Weiß. So einfach ist das.
Sie haben beim FC Ingolstadt bekanntlich Ihren ersten Trainer-Job bei der U17 angetreten. Welche Umstellung war für Sie die größere: Von der U17 zur U23 oder von der U23 zu den Profis?
Leitl: Ganz ehrlich: Die größte Herausforderung war für mich die Aufgabe bei der U17. Während meiner aktiven Karriere war ich ja fast 20 Jahre Profi – und das steckt natürlich tief in einem drin. Auf einmal musst du dich mit Ferien, freien Tagen, Schul-Befreiungen oder Gesprächen mit Lehrern auseinandersetzen. Aber es ging ja noch weiter. Wir haben viermal in der Woche trainiert, mussten aber im Auge behalten, dass wir um 20 Uhr Schluss machen mussten, damit die Jungs, die nicht aus Ingolstadt kamen, noch ihren Zug erreichen. Das entsprechend einzuordnen war – ebenso wie die Belastungssteuerung – zunächst alles andere als einfach. Trotz allem war es eine sehr schöne und lehrreiche Zeit.
Der von Ihnen gerade beschriebene Weg hat Sie nun in der vergangenen Saison zu den Profis geführt. Erfüllt Sie diese Gewissheit, sich alles selbst hart erarbeitet und nichts „geschenkt“ bekommen zu haben, mit einer großen Portion Stolz?
Leitl: Selbstverständlich bin ich darauf stolz. Man muss aber gleichzeitig sagen, dass das alles ohne den Verein auch nicht möglich gewesen wäre. Letztlich haben mir die Verantwortlichen das Vertrauen entgegengebracht. Ich kann mich noch sehr gut an ein Gespräch mit FCI-Geschäftsführer Harald Gärtner unmittelbar nach meinem Karriere-Ende erinnern. Er hat mich damals gefragt, was denn mein Ziel sei. Ich habe ihm sofort gesagt, dass ich einmal als Trainer in den Profi-Bereich möchte – und das am liebsten beim FC Ingolstadt, weil das mein Verein ist! Und dafür habe ich gelebt und gearbeitet. Das macht mich dann schon stolz, wenn dieses Vertrauen von Vereinsseite dann vorhanden ist. Dafür bin ich dem Klub auch sehr dankbar.
Ingolstadt gilt als Arbeiterstadt. Der FC Ingolstadt selbst sieht sich als „Arbeiter-Verein“. Ist das ein Grund, warum die Kombination FCI/“Arbeitstier“ Stefan Leitl derart gut passt?
Leitl: Das ist eine sehr gute Frage. Ich hatte zuletzt nämlich schon das Empfinden, dass sich das alles etwas verschoben hat – speziell nach dem Bundesliga-Aufstieg, der ja sehr hart erarbeitet wurde. Viele Leute sehen den FC Ingolstadt mittlerweile anders und haben dementsprechend ganz andere Ansprüche, was jedoch in meinen Augen fehlplatziert ist. Man darf nicht vergessen: Diesen Verein gibt es seit nunmehr 14 Jahren. Und was die verantwortlichen Personen in diesem Zeitraum geschafft haben, ist in Deutschland einmalig. Genau das ist harte Arbeit! Wir dürfen nicht vergessen, wo wir eigentlich herkommen. Vor fünf Jahren haben wir uns noch in Containern umgezogen, vor acht Jahren im ESV-Stadion um Punkte gekämpft. Ich würde mir schon sehr wünschen, dass diese Denkweise künftig wieder in Ingolstadt dominiert und ein gewisser Realismus einzieht.
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