Am Boden - Der tiefe Fall der deutschen Nationalmannschaft
Am Tag nach dem WM-Debakel ist die DFB-Elf zurück in der Heimat. Und es gibt viele Fragen: Wie konnte der Weltmeister so tief fallen? Und was muss jetzt passieren?
Nein, so hatte man sich den Empfang in Deutschland nicht vorgestellt. Vor allem nicht so früh. Zwei Wochen nach dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland landet der „Mannschaftsflieger“ wieder in Frankfurt. Dort: keine Deutschland-Fähnchen, keine Fan-Gesänge, keine Jubel-Stürme – aber warum auch? Stattdessen steht Manuel Neuer vor einem Pulk Journalisten und muss erklären, was kaum zu erklären ist. Wie es zu diesem historischen Debakel kommen konnte, dazu, dass das deutsche Team erstmals in einer WM-Vorrunde ausgeschieden ist. Also steht der Torhüter da, spricht von „Wut“ und „Enttäuschung“, davon, dass „wir vieles vergeigt haben in den Spielen“. Hinter dem Kapitän weht die schwedische Flagge und, daneben, die brasilianische. Als wollte man es den Spielern noch einmal unter die Nase reiben: Die Schweden sind weiter – ihr nicht. Und Brasilien wäre vermutlich euer Gegner im Achtelfinale gewesen.
DFB-Team entschuldigt sich mit einem Brief bei den Fans für Vorrunden-Aus
Dabei ist die Stimmung am Frankfurter Flughafen ohnehin am Tiefpunkt. Überall betretene Gesichter, ernste Blicke, stoische Mienen. Am Mittag, noch vor der Abreise aus Russland, hat das Team einen Brief veröffentlicht. „Es tut uns leid, dass wir nicht wie Weltmeister gespielt haben“, ist da zu lesen. „Daher sind wir auch verdient ausgeschieden, so bitter es ist.“
In Frankfurt angekommen, wollen die meisten nur eines: weg, ganz schnell weg. Eine Kolonne schwarzer Limousinen steht im VIP-Bereich bereit, um die gestürzten Weltmeister abzuholen. Die Verantwortlichen aber müssen Fragen beantworten. Kapitän Neuer sagt: „Wir haben uns das selbst zuzuschreiben.“ Manager Oliver Bierhoff spricht von Schock, von Bitterkeit und kündigt eine „knallharte Analyse“ des Debakels an. Die wichtigste Frage aber: Was macht Joachim Löw? Bleibt er Nationaltrainer? Oder tritt er zurück? Und was sagt eigentlich Reinhard Grindel dazu?
Grindel, seines Zeichens der ranghöchste Repräsentant des deutschen Fußballs, tritt überall dort auf, wo die integrative Kraft des Fußballs gefeiert wird. Wo ein Kranz niedergelegt werden muss. Oder eine Rede zum deutsch-russischen Verhältnis gefragt ist. Der DFB-Präsident muss sich natürlich äußern, wenn die Nationalmannschaft die größte Enttäuschung ihrer Geschichte erleidet. Mag die Regierungskoalition kurz vor dem Bruch stehen, als nationales Desaster sieht manch einer dann doch eher das Aus der Elf in Russland an.
Macht Joachim Löw weiter? Der Trainer braucht Bedenkzeit
Im Flugzeug, so viel ist bekannt, hat es eine Art Krisengipfel gegeben. Nach der Landung sagt ein gezeichneter Joachim Löw: „Ich muss mich selber hinterfragen. Es braucht Zeit, ein paar Gespräche, und dann werden wir eine klare Antwort geben.“ Danach kommt Grindel. Direkt nach dem WM-Aus am Mittwoch hat der Präsident noch betont, die Leistung zu analysieren, sei nicht seine Aufgabe, sondern die der sportlichen Leitung. Nun kündigt er an, erste Ergebnisse werde es in der kommenden Woche geben. „Dann rechne ich auch damit, dass sich der Bundestrainer zu seiner Zukunft äußern wird.“
Man darf diese Äußerungen als zartes Abrücken von Löw werten. Grindel baut sich selbst eine Brücke. Sollte der öffentliche Druck zu groß werden, wird er wohl versuchen, dem 58-Jährigen den Rücktritt nahezulegen. Selbst entlassen aber wird er ihn nicht. Dafür sind Löws Verdienste um den deutschen Fußball zu groß, den er in seinen zwölf Jahren als Nationaltrainer von der Mittelmäßigkeit an die Weltspitze geführt hat.
Nun aber steht Löw im Mittelpunkt einer Diskussion, die er nicht selbst beeinflussen kann. Er hat die Deutungshoheit über sein Wirken vorerst verloren. Und sein Präsident sagt: Ich habe mit dem Auftreten nichts zu tun. Was ja so auch nicht ganz der Wahrheit entspricht. Denn der DFB hat der Nationalmannschaft freie Hand gelassen. Da wird ein eigenes Leistungszentrum in Frankfurt gebaut, Oliver Bierhoff darf mit weitreichenden Befugnissen die Vermarktung vorantreiben, das Spiel soll mehr und mehr erforscht werden. Bierhoff redet von „Think Tanks“ – grenzenloses Denken, wie der Fußball der Zukunft aussehen soll. So hat sich die Nationalmannschaft Stück für Stück von der Basis entfernt. Technologie, Konzepte, Akademisierung. Und mittendrin Löw, ehemaliger Zweitligaspieler, geboren in der Provinz Baden-Württembergs.
Löw hat zwei Vorlieben: guten Fußball und frisch gebrühten Espresso. Sogar eine eigene Espressomaschine hatte er sich nach Russland mitgenommen. Nun, zurück in Deutschland, muss er analysieren, warum sein Team nicht einmal die Vorrunde überstanden hat. Für alle offensichtlich war, dass die Mannschaft nicht als Mannschaft funktionierte. Dass da zwar etliche ausgezeichnete Spieler auf dem Platz standen, sie aber nicht zueinanderfanden. Da kann sich ein Trainer nur schwer aus der Verantwortung nehmen. Zumal die Spiele in Russland zumindest in der Nachbetrachtung kaum verwundern. Letztmals wirklich überzeugend traten die Deutschen im Herbst des vergangenen Jahres auf. Danach reihten sie von Fehlern zersetzte Spiele aneinander. „Dass wir 2014 kaum ein Gegentor kassiert haben, war kein Zufall. Und dass wir in letzter Zeit deutlich mehr Tore kassiert haben, ist auch kein Zufall“, warnte Toni Kroos schon vor dem Turnier. Doch da war es bereits zu spät.
Affäre und Özil und Gündogan schadete der Stimmung
Konnte Löw das Team bei den vergangenen Welt- und Europameisterschaften noch punktgenau trimmen, misslang ihm das diesmal. Er fand keinen Weg, die Spieler des FC Bayern nach dem verlorenen Champions-League-Halbfinale aus ihrem mentalen Tief zu holen. Spieler wie Jérôme Boateng haben zudem mit einer verzerrten Selbstwahrnehmung zu kämpfen. Seit zwei Jahren hat er mehr mit Verletzungen als mit gegnerischen Stürmern zu kämpfen. Trotzdem sieht er sich immer noch als einer der weltbesten Innenverteidiger. Es ist das gleiche Phänomen wie bei Polens Robert Lewandowski: Auch er hält sich für ein Geschenk des Fußballgottes an die irdischen Stümper. Auch er versagte bei der WM.
Zu all den mentalen und körperlichen Problemen der deutschen Spieler gesellte sich noch eine Debatte, die Löw nicht auslöste – die aber bemerkenswert schwach moderiert wurde: die Erdogan-Affäre. Erst als Ilkay Gündogan im letzten Vorbereitungsspiel gegen Saudi-Arabien ausgepfiffen wurde, nahm der Verband die Dimension der Debatte wahr, die nun nicht mehr einzufangen war. Zu viele Nebengeräusche, als dass der ruhige Löw noch hätte durchdringen können.
Ein Ausscheiden in der Vorrunde war trotzdem unnötig. Kurz vor dem ersten Spiel präsentierte der DFB stolz, wie hervorragend man mit dem Software-Giganten SAP zusammenarbeitet, wie man von sämtlichen gegnerischen und eigenen Spielern Daten sammelt und auswertet, taktische Vorlieben der anderen Teams analysiert. Das alles landet beim Bundestrainer und den Spielern auf Handys und Tablets. Löws Truppe sah sich als Weltmarktführer der Spielanalyse. Dann treten die Mexikaner mit einer unerwarteten Taktik an und das deutsche Team ist komplett hilflos.
Besonders hart trifft die Kritik Mesut Özil: Singt nie die Nationalhymne mit, keine Körperspannung und diese Erdogan-Fotos. Löw nimmt ihn aus der Mannschaft. Bringt ihn wieder gegen Südkorea. Und wieder machen viele hauptsächlich Özil für die Niederlage verantwortlich. Der hat aber am meisten Torschüsse vorbereitet, davon drei Großchancen. Özil kann nichts dafür, dass Mats Hummels und Timo Werner seine feinen Zuspiele nicht veredeln können. Aber: Für viele ist Özil trotzdem schuld.
Was Angela Merkel und Joachim Löw eint
Das liegt schon daran, dass der Sport neben der Politik der einzige Bereich ist, in dem ein jeder weiß, wie es hätte besser laufen können. Wo man den Hebel ansetzen muss. Das sorgt für Gemeinschaftsgefühl. Ist aber auch anstrengend. Angela Merkel ist noch ein wenig länger als Joachim Löw im Amt. Beide haben keinen Hang zum Populismus. Beide stecken gerade in der schwierigsten Phase ihrer Laufbahn. Werden im einen Fall von einem widerspenstigen Bayern, im anderen von Boulevardmedien vor sich hergetrieben. Beide stehen auch deswegen in der Kritik, weil sie viele ihrer in Ruhe gefällten Entscheidungen der Öffentlichkeit nicht schlüssig erklären konnten. Wieso ließ Löw den in England überragenden Leroy Sané zu Hause? Warum setzte er im entscheidenden Spiel gegen Südkorea rechts auf Leon Goretzka und nicht auf Julian Brandt, der in den ersten beiden Partien während seiner Kurzeinsätze überzeugte? Warum baute Löw eine zittrige Elf gleich auf fünf Positionen um? Es gibt für alles schlüssige Begründungen, nur von alleine mag sie Löw nicht liefern.
Über ein Jahrzehnt ging diese Art der Führung gut. Löw hat auch früher schon Entscheidungen getroffen, die sich nicht allen sofort erschlossen. Wer trifft, hat recht, sagen Sportler. Die Deutschen kamen mit Löw immer mindestens ins Halbfinale, wurden 2014 Weltmeister. Unter seiner Anleitung erfand sich die Nationalmannschaft neu. Weg vom Führungsspieler-Fußball. Kein schnödes Verwalten. Im Zentrum der Arbeit stand die Attacke des Kollektivs. Gegner wurden nicht mehr niedergerannt, sondern sauber seziert. In seinen besten Phasen war das deutsche Spiel wunderschön. Nun aber wirkt es überholt. Kraftvoller Emotional-Fußball ist wieder gefragt. Dazu Einzelkönner auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Ronaldo oder Englands Harry Kane können ihr Team retten, wenn das Spiel hakt. Lionel Messi ist auch in mäßiger Verfassung fähig, eine Partie im Alleingang zu entscheiden. In der deutschen Elf verfügt niemand über diese individuelle Klasse.
Löws Aufgabe wäre es nun, aus einer Masse guter Spieler eine sehr gute Mannschaft zu formen. Eine, die den Rückstand auf die Top-Nationen erkennt und gewillt ist, ihn aufzuholen. Ein Team, das energisch auftritt. Löw hat den deutschen Fußball der vergangenen Jahre geformt. Sieht er sich in der Lage, ihn nochmals auf andere Weise zu modellieren, wird er es versuchen. Entschließt er sich zum Rücktritt, wäre die Brücke bereits gebaut, über die er gehen kann. (mit dpa, sok)
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Die Diskussion ist geschlossen.
Alles gesagt, alles richtig. Leider.
Und am 6. September 2018, also nur noch 70 Tage entfernt, ist das erste Spiel in der neuen (für mich persönlich völlig überflüssigen) "UEFA Nations League 2018/19" gegen Frankreich. Dann folgen Spiele gegen Niederlande (13.10.), Frankreich (16.10.) und Niederlande (19.11.).
Da bin ich mal gespannt, welcher Trainer und welche "Mannschaft" es da richten wollen.
Eine in weiten Teilen treffende Analyse.
Zwei Punkte möchte ich noch anmerken:
- der Weltmeister und CL-Sieger Toni Kroos wird m.E. immer noch überhöht in den Medien dargestellt. Seine WM-Leistung als Taktgeber und spiritus rector des deutschen Spiels war miserabel, gemessen am Anspruch. Das Ganze wird nur übertüncht von seinem phänomenalen Freistosstor gegen Schweden.
- die Abkoppelung von "Die Mannschaft" von der dem Fussball doch eigenen Emotion und Empathie wurde in diesen Wochen über die Massen augenscheinlich. Es wirkt wie eine simple Werbetruppe für ein Produkt Bierhoff'scher Prägung. Abgeschottet in einer eigenen Welt. Daraus kann durchaus eine empfinndliche Störung der Selbstwahrnehmung entstehen die dazu führt, Gegner zu beleidigen (Schweden) nicht ernst zu nehmen (Südkorea) oder in Überheblichkeit 90 Minuten nicht wahrzunehmen, dass es eventuell der Gegner auch kann, wie zum Auftakt gegen Mexiko.
Der DFB ist gefordert auch seine um die Mannschaft herumgebaute Struktur zu hinterfragen. Nach meiner (unmassgeblichen) Meinung hat die Selbstherrlichkeit Bierhoff schlicht und einfach verloren. Weitaus mehr als "Die Mannschaft" auf dem Grün.
Deutschland sollte nun Größe beweisen und den Sieg der Koreanischen Mannschaft als den Sieg der besseren Mannschaft werten.
"Nach dem Spiel ist vor dem nächsten Spiel"
Die Leichtigkeit fehlte und es war bei einigen Spielern auch Überheblichkeit zu spüren. Was solls.... beim nächsten mal wird es besser.
Richtig ! Mir haben die Koreaner schon gegen Mexiko sehr gut gefallen und mir im Stillen gedacht, so kurz nach dem Schweden-Spiel werden die Deutschen noch nicht gefestigt genug sein. Schon Beckenbauer hat früher gesagt : Eine Mannschaft ist nur so stark, so wie es der Gegner zulässt. Die vermeintlich schwächeren Team lernen doch immer mehr dazu, somit ist das Leistungsniveau angeglichen und automatische Siege nicht mehr selbstverständlich. sonst könnte mann die WM am Reißbrett machen.
"Löws Aufgabe wäre es nun, aus einer Masse an guten Spielern eine sehr gute Mannschaft zu formen"
Das hätte Löw vor der WM machen müssen und sich der Zeit und Spielweise der Gegner anpassen sollen. Wir haben gute Spieler aber wir hatten keine gute "Mannschaft" bzw. "Team". Das Zusammenspiel und die Einstellung auf die Gegner waren desolat. Das muss man dem Trainer anlasten. Die "Warnschüsse" bei den Vorbereitungsspielen wurden überhört bzw von den Verantwortlichen nicht wahrgenommen. Einzig die Fans haben's kapiert. Und die unsägliche Debatte mit den Fotos verstehen die DFB Oberen immer noch nicht: die Fotos waren nicht das Ausschlaggebende Ein Trikot mit der Aufschrift "für meinen geliebten Präsidenten" von einen deutschen Nationalstürmer, der nicht einmal einen türkischen Pass hat, ist unentschuldbar. Hie hätte man "Flagge" zeigen müssen und die beiden zu Hause lassen sollen. Aber da hat sich schon abgezeichnet dass bei der Nationalmannschaft die Hierarchien verschoben sind . Die "jungen" Spieler haben nichts zu sagen und die "alten" sind das Nos Plus Ultra!