Prügelnde Tenniszuschauer - drehen jetzt eigentlich alle durch?
Im weißen Sport bestimmt der Knigge das Handeln auf den Rängen. Doch - wie ein Vorfall bei den Australien Open zeigt - in diesen verrückten Zeiten werden selbst eherne Gesetze des Tennis ausgehebelt.
Als im 19. Jahrhundert die ersten Bälle übers Netz flogen, galt Tennis als höchst vornehme Angelegenheit. Wenn Durchlaucht den Schläger schwang, hüllte sich der Gentleman in weißes Gewand. Schweißflecken waren verpönt, Von und Zu versuchte mit seiner Farbwahl jeglichen Beweis austretender Körpersäfte zu vertuschen. Heute hingegen sind durchnässte Leiber Zeugen überbordenden Einsatzes. Auch sonst hat der „weiße Sport“ seine elitären Kreise längst verlassen. Kabarettist Gerhard Polt formulierte es in seiner legendären Nummer „Longline“ einst so, dass sich „jeder Arsch weiße Schuhe kaufen kann“.
Tennis ist ein Sport für jedermann und jedefrau, seine Etikette hat er sich indes bewahrt – trotz modischer Ausreißer von André Agassi oder den Williams-Schwestern. Beispiel: Wimbledon. Beim Turnier in London wird nicht nur auf Gras gespielt und werden Erdbeeren verspeist, dort muss die Kleidung der Spieler selbst im Jahr 2022 noch zu 90 Prozent weiß erstrahlen.
Tennisfreunde wissen sich zu benehmen - könnte man meinen
Im Land der Royals wollen Traditionen gepflegt werden, goutiert von einem fairen Publikum, das Fachwissen und Gespür beweist. Wer Tennis schaut, ist mit dem Knigge vertraut. Mögen sich die minderbemittelten Fußballfans die Köpfe einschlagen und Boxer Gehirnzellen zerstören, Tennisfreunde wissen sich zu benehmen. Sind still, wenn aufgeschlagen wird. Spenden Verlierern ebenso viel Applaus wie Gewinnern. So der Normalzustand.
Doch was ist schon normal, wenn die elfte biblischen Plage in Form einer stacheligen Kugel über die Menschheit hereinbricht. Wenn Erdlinge Schamanen und Glaskugeln mehr glauben als Wissenschaftlern. Ja sogar eherne Gesetze des Tennissports werden inzwischen ausgehebelt. Dass sich unter der Tenniselite Rüpel finden, weiß man spätestens seit Novak Djokovic. Der Spieler beließ es aber zumindest bei verbalen und juristischen Attacken. Anders tickt inzwischen mancher Zuschauer. Während einer Partie der Australian Open flogen die Fäuste. Die einen sollen sich nicht an die Maskenpflicht gehalten haben, was die anderen zur Tat schreiten ließ.
Drehen jetzt eigentlich alle durch? Wenn nicht einmal mehr das Tennispublikum eine gewisse Form des Umgangs einhält – was kommt dann bitte als Nächstes? Schachspieler, die ihre Figuren werfen? Formel-1-Fahrer, die Reifen zerstechen? Biathleten, die auf Konkurrenten schießen?
Manchmal wünscht man sich die gute, alte Zeit zurück. In der Schweißflecken das größte Problem waren.
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