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Interview: Niklas Kaul über Olympia in Deutschland: "Bitte genauso wie in München"

Interview

Niklas Kaul über Olympia in Deutschland: "Bitte genauso wie in München"

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    Niklas Kaul ist bereits zwei Mal zum Sportler des Jahres gewählt worden.
    Niklas Kaul ist bereits zwei Mal zum Sportler des Jahres gewählt worden. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Niklas Kaul, zunächst herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 25. Geburtstag! Ihr Terminkalender dürfte aber generell momentan ziemlich voll sein. Neben dem Training gibt es auch noch solche Ereignisse, bei denen Sie Smoking tragen müssen wie kürzlich beim "Ball des Sports". Inzwischen kann man Sie durchaus als eine Art Botschafter für die deutsche Leichtathletik bezeichnen, als "Sportler des Jahres" vielleicht sogar als Galionsfigur des deutschen Sports.
    NIKLAS KAUL: Eigentlich möchte ich das nicht sein, eine Galionsfigur. Natürlich genieße ich solche Einladungen wie die zum "Ball des Sports", sie machen mir Spaß, und außerdem halte ich es für wichtig, dass dadurch die Leichtathletik mehr Aufmerksamkeit erfährt. Das geschieht aber nicht nur durch mich, sondern auch durch Gina (Lückenkemper), die "Sportlerin des Jahres" wurde, oder Malaika (Mihambo), die diese Ehrungen in den vergangenen Jahren erhalten hat. Aber als Galionsfigur fühle ich mich nicht.

    Dennoch sind Sie spätestens seit dem vergangenen Jahr ein Sportler, der auch über den Leichtathletik-Tellerrand hinaus Bekanntheit genießt. Haben Sie inzwischen schon verarbeitet, was da alles 2022 passiert ist?
    KAUL: Mittlerweile schon. Aber es hat gedauert und es war anfangs wirklich eine ganze Menge, worüber ich mir bewusst werden musste und auch was danach alles auf mich zukam.

    Ich könnte mir vorstellen, dass so ein Zehnkampf wie der in München immer wieder wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft.
    KAUL: Vor allem gab es diesen einen Punkt am zweiten Tag von München, den Übergang vom Diskuswerfen zum Stabhochsprung, an den ich mich immer noch erinnere. Ich packte meine Tasche und spürte eigentlich, dass der Titel nicht mehr drin sein konnte. Dennoch habe ich danach einen ziemlich guten Stabhochsprung hinbekommen. Das macht vielleicht auch das Wesen des Zehnkampfs aus: Eine verkorkste Disziplin abhaken und sich voll auf die nächste konzentrieren. Ich weiß, dass ich immer wieder schlechte Disziplinen haben werde, aber das Wichtigste ist: Niemals die Flinte ins Korn werfen. Und dann läuft in meinem Kopf immer wieder der dritte Versuch im Speerwurf ab, bei dem ich schon im Anlauf das Gefühl hatte: Der wird richtig gut! Die Leute haben mich förmlich getragen, die Stimmung war Wahnsinn! So etwas kann man nicht vergessen!

    Niklas Kaul gilt ja spätestens seit der EM in München als ein besonderer Zehnkämpfer, einer, der das Feld quasi von hinten aufrollt und das klassische sportliche Drama mit programmiertem Happy End liefert. Aber ist das nicht eine gewaltige mentale Herausforderung, immer wieder Aufholjagden am zweiten Tag starten zu müssen?
    KAUL: Manchmal würde ich es mir auch wünschen, dass es weniger Punkte wären, die ich zurückliege. Aber man gewöhnt sich irgendwie daran. Generell gibt es auch keine Marschtabellen vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf. Für mich geht es einfach nur darum, so schnell wie möglich zu laufen, exakt das Tempo abzurufen, das ich mir im Training durch längere Tempoläufe angewöhnt habe. Aber natürlich haben Sie Recht: Es ist schwierig, mit solchen Rückständen umzugehen, weil ich stets an einen Punkt komme, an dem ich denke, dass es nicht mehr reichen könnte. Gerade dann ist es aber wichtig, sich auf seine Stärken zu konzentrieren, an sich zu glauben, und dass der Zehnkampf eben erst nach der zehnten Disziplin zu Ende ist.

    Danach gehen die Zehnkämpfer eigentlich schon traditionell auf eine Ehrenrunde, präsentieren sich bei aller Rivalität als große Familie. Für die Individualsportart Leichtathletik ist das schon ungewöhnlich.
    KAUL: Aber es ist nicht gespielt! Und hinter den Kulissen, bei der Vorbereitung, im Pausenraum oder im Call Room ist das genauso. Wir essen zusammen, quatschen auch mal über Dinge außerhalb des Sports und helfen uns gegenseitig, wenn es bei dem einen mal nicht so gut läuft. Ich denke, dass uns das, was wir da zwei Tage auf uns nehmen, verbindet, auch weil wir wissen, wie viel Arbeit dahintersteckt, bis man überhaupt zu solchen Wettkämpfen kommt. Und eines dürfen Sie mir wirklich glauben: Wir wünschen uns alle nur das Beste. Ich kenne keinen, der sich über einen Patzer des anderen freuen würde. Es bleibt allerdings immer noch ein Konkurrenzkampf.

    Vor dem EM-Titel in München haben Sie schon 2019 in Doha WM-Gold gewonnen. Welcher Titel ist für Sie eigentlich der wertvollere?
    KAUL: Emotional zweifellos der von München. Das war schon etwas ganz Besonderes, in diesem wunderschönen Stadion und vor dieser Kulisse einen Zehnkampf zu bestreiten. Deshalb hat das eine ganz besondere Bedeutung. Sportlich gesehen war natürlich der Sieg bei der WM wichtiger, auch von der Punktzahl her, denn damals habe ich meine Bestleistung erzielt (8691 Punkte). Eines darf man ja nicht vergessen: Ohne Doha, ohne die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, ohne die Möglichkeiten, die sich dadurch für mich ergaben, aber auch die Jahre danach mit Corona, meinen ganzen Verletzungen und all den Rückschlägen, hätte es so etwas wie in München nie gegeben.

    Können Sie das genauer erklären?
    KAUL: Jeder Sportler muss irgendwann mal Talsohlen durchschreiten. Das war bei mir definitiv nach Doha der Fall. Wichtig ist, wie man damit umgeht. In den Jahren danach wurde ich zwangsläufig damit konfrontiert, Verletzungsphasen und Formtiefs auszuhalten. Dabei lernt man den Moment schätzen, an dem man irgendwann wieder Wettkämpfe bestreiten kann. Das kannte ich so vorher nicht, weil es bis Doha eigentlich immer wie von selbst zum Saisonhöhepunkt geklappt hat. Besonders die Olympischen Spiele 2021 in Tokio empfand ich als sehr einschneidendes Erlebnis, weil ich da zum ersten Mal überhaupt einen Zehnkampf abbrechen musste.

    Wie weit lässt sich sportlicher Erfolg planen?
    KAUL: Eigentlich überhaupt nicht. Die Rahmenbedingungen müssen erst mal stimmen. Das ist bei mir hier in Mainz definitiv der Fall. Ich finde hier ziemlich optimale Bedingungen für Leistungssport vor, kann auch mein Studium in den Alltag integrieren. Natürlich hat sich das erst über die Jahre hinweg entwickeln müssen, gemeinsam mit den Verantwortlichen von Verein und Uni mussten Strukturen aufgebaut werden. Die Trainingsplanung spielt eine große Rolle, da gelingt es uns schon, zum Höhepunkt immer eine Top-Form zu entwickeln. In Tokio hat das alles aber nicht geklappt, weil der Faktor Mensch nach wie vor die größte Rolle spielt.

    Welche Rolle spielen Ihre Eltern Stefanie und Michael Kaul?
    KAUL: Eine ziemlich große! Zum einen sind sie seit zwölf Jahren meine Trainer, weil sie aus der Leichtathletik kommen – beide waren 400-Meter-Hürdensprinter –, zum anderen arbeiten sie punktuell mit Spezialtrainern zusammen, wie zum Beispiel im Stabhochsprung mit dem (aus Neuburg/Donau stammenden) früheren Chef-Bundestrainer Herbert Czingon, der auch hier in Mainz lebt. Meine Mutter und mein Vater haben mich seit der Jugend enorm unterstützt, mir dabei geholfen, mein Leben auf die Leichtathletik auszurichten und es mir möglich gemacht, überhaupt Leistungssport zu betreiben. Natürlich ist das der Idealfall. Aber er beweist auch, wie wichtig die familiäre Unterstützung auf einem solchen Weg sein kann.

    Die Vereine bleiben nach wie vor die Keimzellen für den Spitzensport. Ohne sie gäbe es keine Talente und ohne Talente keine Olympiasieger.
    KAUL: Genau darum geht es! Eigentlich müsste die Ausgangslage doch die sein, dass möglichst viele Menschen Sport treiben und in die Vereine gelockt werden. Die schaffen die Voraussetzungen für eine möglichst breite Basis, gerade in der Jugend, aus der sich dann irgendwann die Besten herauskristallisieren. Ich beobachte das hier beim USC Mainz. Bei uns können Spitzensport und Breitensport durchaus nebeneinander existieren, denn das eine befruchtet das andere. Doch diesen Aspekt vergessen viele. Leider.

    Wie gehen Sie eigentlich mit dem ganzen Druck um, der nach dem Gewinn der Europameisterschaft nicht kleiner wird? Jeder erwartet ja jetzt automatisch Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften.
    KAUL: Nach der WM in Doha war das ein ziemliches Problem für mich. Viele dachten, dass man als Weltmeister auch bei Olympia ganz oben stehen muss. Das hat mich belastet. Mittlerweile bin ich ein bisschen älter und kann eigentlich ganz gut damit umgehen. Denn ich habe ja schon mehr erreicht, als ich mir als Kind je erträumt hätte und die meisten anderen Sportlerinnen und Sportler in meinem Alter. Das macht einen schon gelassener. Falls, Stand heute, nichts mehr dazukommen sollte – was ich natürlich nicht hoffe, weil ich vor allem meine persönliche Bestleistung noch höherschrauben will –, dann könnte ich durchaus mit einem Gefühl der Zufriedenheit meine Karriere beenden.

    Wäre es nicht vielleicht auch ein Ziel, Olympische Spiele als Athlet in Deutschland zu bestreiten, gerade nach solchen Erfahrungen wie in München?
    KAUL: Ich würde das absolut befürworten. Wenn, dann aber bitte genauso wie in München! Damit meine ich, dass man eine bestehende Infrastruktur hernimmt, wie den Olympiapark, diese modernisiert und nicht für teures Geld etwas Neues hinstellt. Wichtig ist doch der Nachhaltigkeitscharakter. Solche Sportstätten sollten für spätere Generationen zugänglich bleiben, die Jugendlichen dazu animieren, auch in Zukunft Sport zu treiben. Um die Kosten einigermaßen im Rahmen zu halten, könnte ich mir sogar vorstellen, dass sich München und Berlin, die Städte, in denen bereits Olympische Spiele stattfanden, zu einer gemeinsamen Kandidatur entschließen, vielleicht noch mit Frankfurt als möglichem dritten Standort. Also eine gesamtdeutsche Bewerbung. Dass das durchaus funktionieren kann, habe ich 2021 in Japan erlebt. Da waren die Wege noch weitaus größer.

    Wenn Sie nicht in der Leichtathletik gelandet wären, hätte es eigentlich auch eine andere Sportart für Sie gegeben?
    KAUL: Handball! Zehn Jahre habe ich Handball gespielt, gerade die kürzlich zu Ende gegangene WM war eine echte Werbung für diesen Sport. Mit meinem Speerwurf-Arm war ich da nicht unbedingt verkehrt. Allerdings weiß ich ganz genau, dass ich es nie in die Bundesliga oder in die Nationalmannschaft geschafft hätte. Also war der Schritt zur Leichtathletik eigentlich nur logisch und rückblickend absolut die beste Entscheidung.

    Zur Person

    Niklas Kaul, geboren am 11. Februar 1998 in Mainz, stammt aus einer leichtathletikbegeisterten Familie und kam über den Handball und das Speerwerfen zum Zehnkampf. 2019 gewann er mit 21 Jahren die Goldmedaille bei den Weltmeisterschaften 2019 in Doha (Katar) – der bislang jüngste Weltmeister in der Geschichte des Zehnkampfes. 2022 holte er den Europameistertitel im Münchner Olympiastadion. Dank dieser Erfolge wurde der Lehramtsstudent (Physik und Sport) in diesen beiden Jahren jeweils zum "Sportler des Jahres" in Deutschland gewählt. Die Weltrekorde im U18- und U20-Zehnkampf gehen ebenfalls auf sein Konto.

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