Startseite
Icon Pfeil nach unten
Sport
Icon Pfeil nach unten

Interview: Stabhochspringerin Hingst: "Wollte gleich wieder einen Rückzieher machen"

Interview

Stabhochspringerin Hingst: "Wollte gleich wieder einen Rückzieher machen"

    • |
    Unser Bild zeigt die Stabhochspringerin Carolin Hingst bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking, wo sie Sechste wurde.
    Unser Bild zeigt die Stabhochspringerin Carolin Hingst bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking, wo sie Sechste wurde. Foto: Gero Breloer, dpa

    Wie schwer fällt es, nach so vielen Jahren im Hochleistungssport zu sagen: Jetzt ist Schluss?

    Carolin Hingst, 43: Diese letzten Wochen waren schon schwer. Ich habe viel hin und her überlegt. Als ich es dann offiziell ausgesprochen hatte und es auf der Website des DLV stand, da wollte ich gleich einen Rückzieher machen und sagen, dass es gar nicht so gemeint war. Dann habe ich wieder Selbstgespräche geführt und mir quasi selbst klar gemacht, dass es schon so gemeint war. Es kam halt immer die innere Stimme, die gesagt hat: Komm, ein Jahr noch.

    Die Entscheidung ist jetzt aber endgültig, oder gibt es noch ein Hintertürchen?

    Hingst: Ja, meine Entscheidung ist final getroffen.

    Was konkret wird sich jetzt ändern?

    Hingst: Mein Rhythmus war mit meinem Training immer vorgegeben. Und plötzlich habe ich mich gefragt: Wieso soll ich denn überhaupt noch Sport machen? Ja klar, um fit zu bleiben. Nur weil du jetzt keine Wettkämpfe mehr machst, willst du doch weiterhin topfit sein. Das ist doch dein Beruf. Aber die Gedanken gehen da von einem Extrem ins andere. Wenn ich jetzt trainiere, gebe ich mir bis Ende des Jahres bewusst zwei bis drei Monate Zeit, keine hohen Intensitäten, keine Intervalle, keine maximalen Sachen zu machen. Ich gebe mir Zeit, die lange Zeit im Hochleistungssport zu verdauen. Zuerst habe ich mir nämlich auch überlegt: Was ist denn dein nächstes Ziel? Wo kannst du mitmachen? Nein, Caro, erst mal Ruhe einkehren lassen. 

    Aber so denken Sportler eben. Die haben ein Ziel, auf das hingearbeitet wird. Und plötzlich fehlt das Ziel.

    Hingst: Ja und nein. Ich lehre ja auch im Personal-Coaching, dass das Ziel kein Halbmarathon sein muss. Oder dass man maximal hochspringen will. Das Ziel kann ja auch einfach nur sein, dass ich gesund und fit sein will. 

    Sport wird also weiterhin ein wichtiger Bestandteil Ihres Lebens sein?

    Hingst: Der Sport ist meine absolute Leidenschaft. Mich kann man für Skifahren genauso begeistern wie für Bogenschießen oder Schach. Ich kann laufen, schwimmen, Rad fahren, bouldern – alles. Ich bin bei jedem Sport dabei. Aber wenn ich beim Stabhochsprung jetzt komplett loslasse, dann habe ich keine Lust, in vier oder fünf Jahren wieder bei den Senioren anzufangen. Letztes Jahr war die deutsche Senioren-Meisterschaft in Erding. Die haben da eine geile Anlage. Dann hat der Wetterbericht aber zehn Grad gemeldet und dann kamen die Gedanken: Du hast am Samstag und Sonntag Lauftraining mit deinen Kunden. Am Samstag ist ein Wettkampf. Du fährst bei zehn Grad nach Erding. Die Verletzungsgefahr ist dann ziemlich hoch. Wie realistisch ist es, dass du an dem Tag vier Meter springst? Willst du da mit 3,50 Meter den ersten Platz machen? Ne! Das, was ich schon an Erlebnissen hatte, kann ich einfach nicht mehr toppen. Das ist mir da bewusst geworden und zu diesem Punkt bin ich immer wieder gekommen. 

    Der perfekte Zeitpunkt aufzuhören?

    Hingst: Den gibt es nicht. Das ist ja auch bei jedem anderen so. Ich bin eine Person, die sich ganz, ganz stark auf eine Sache konzentrieren und fokussieren kann. Deswegen bin ich auch in eine innere Diskrepanz gekommen. Will ich nochmal maximal hochspringen und alles aus mir raus- holen? Gleichzeitig will ich aber auch in der Arbeit die nächste Stufe erreichen. Das passt dann nicht mehr zusammen. Soll ich trainieren oder soll ich schon meine E-Mails abarbeiten? 

    Ist aber vielleicht der genau richtige Ansatz? Dass man einen Plan hat, was man nach der Sportkarriere macht. Dass da keine Leere entsteht.

    Hingst: Ja, genau das habe ich mir auch dann noch mal gesagt. Du hast dir das doch nebenbei aufgebaut, dass du was hast, wenn du aufhörst. Ich habe natürlich rechts und links geguckt. Da gibt es ja einige Geschichten, wo das nicht so gut geklappt hat. Der Sportler gibt ja buchstäblich alles, was er hat, sonst wird er nicht gut. In dem Moment, wo er das infrage stellt, ist es vorbei. 

    Trotzdem bleibt das Problem: Egal, was man danach macht, man wird nicht mehr so gut darin sein wie im Sport.

    Hingst: Das hat neulich auch jemand gesagt, aber das kann ich gar nicht sagen. Ich kann doch auch in den Vorträgen richtig gut werden. 

    Aber gibt es dafür dann auch die Anerkennung, die es auf der großen Sportbühne gab?

    Hingst: Das ist ein guter Punkt. Der erfolgreiche Sportler bekommt über viele Jahre jede Menge Applaus von außen und glaubt, er ist ein superguter. Wenn dann plötzlich die Wettkämpfe wegfallen und die Erfolge, dann ist auch der Applaus nicht mehr da. Was passiert dann mit der Psyche? Dann versucht der Körper plötzlich andere Eskapaden aus dem Drang heraus, irgendwie anders aufzufallen. Man muss sich aber klarmachen, dass die Welt weiterläuft, dass das Leben weiterläuft, aber halt auf eine andere Art und Weise.

    Was nehmen Sie aus diesen Erfahrungen für Ihren Beruf als Personal-Coach mit?

    Hingst: Vor allem, dass ich mit meinem Sport und der Bewegung am Ball bleibe. Wenn meine Kunden fitter sind als ich, dann läuft was schief. Ich mache halt die nächsten Monate ein bisschen langsamer. Das vermittle ich auch beruflich. Wenn man privat oder beruflich eine schwere Phase hat, muss man trotzdem am Ball bleiben, aber eben etwas ruhiger. Damit die Psyche das alles schaffen kann.

    Noch einmal zurück zu Ihrer Entscheidung, die Karriere zu beenden. War diese das Ergebnis eines langen Denkprozesses, oder sind sie eines Morgens aufgewacht und wussten, jetzt ist es so weit?

    Hingst: Ich bin ja noch bei deutschen Meisterschaften gewesen und dann ist die Wade zugegangen. Da habe ich mir gedacht, dass ich das jetzt nicht riskiere und trotzdem springe. In Moskau 2013 bin ich mit einem Achillessehnenriss einfach weiter gesprungen. Jetzt war ich nicht mehr bereit, über die körperlichen Grenzen zu gehen. Weil mir mein Beruf und meine Gesundheit superwichtig sind. Ich muss mir doch selbst nichts mehr beweisen. An meinem Geburtstag im September habe ich realisiert, wie lange ich das eigentlich schon mache. Dann ist mir aufgefallen, dass ich auch schon seit zehn Jahren nebenbei meine berufliche Karriere aufgebaut habe. Da kam dann eine innere Unruhe auf, dass ich mich jetzt entscheiden muss. Sonst steige ich im November wieder ins Training ein und richte mein Leben wieder danach aus. Das war ganz komisch. Ich wusste, dass ich nicht mehr will. Aber mein Kopf hat schon wieder das Training geplant. Das ist die Gewohnheit. Eine Selbstverständlichkeit, ohne groß etwas ändern zu müssen. Ich habe es dann aber durchgezogen und ich stehe zu 100 Prozent hinter meiner Entscheidung. Ich bin meinem Körper unheimlich dankbar, dass er mich da hingebracht hat, wo ich war. Ich wurde da nicht hineingeboren. Das waren viel Fleiß und Entbehrung und sehr viel harte Arbeit, die keiner sieht. 

    War es Ihre größte Leistung, über einen so langen Zeitraum in der Spitze zu sein?

    Hingst: Das stimmt. Egal was kam, ich bin immer wieder aufgestanden und habe mir ein neues Ziel gesetzt. 

    Woher kam dieser Antrieb?

    Hingst: Ich glaube schon, dass das ein bisschen mit der harten Schule meines Papas zu tun hat. Ich habe als Kind einfach gelernt, dass man dranbleibt. Wenn es draußen geregnet hat, sind wir halt trotzdem zum Jedermannslauf gegangen. Beim Silvesterlauf war es auch oft sehr kalt. Mütze auf, Handschuhe an und los ging's. Danach hat man Tee getrunken, hat gelacht und hat bei der Siegerehrung was gewonnen. Dann war auch alles wieder okay. 

    Frei nach dem Motto: keine Ausreden.

    Hingst: Ich würde es positiver formulieren. Ich sage lieber, dass man im Rhythmus bleibt. Das lehre ich auch auf meinen Vorträgen. Gehst du vom Schmerz weg oder gehst du zum Ziel hin? Hast Du eine Ausrede parat oder verfolgst Du Dein Ziel? 

    Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückschauen: Was fällt Ihnen als erstes ein?

    Hingst: Die Olympischen Spiele in Peking natürlich. In Athen bin ich in der Quali rausgeflogen. Da war ich wirklich enttäuscht. Mein Papa hat mir damals eine SMS geschickt, in der stand, dass er weiß, dass seine Tochter aus hartem Holz geschnitzt ist. Aufstehen, neue Ziele setzen, weiter machen. Mein Papa sagt ganz selten so was, deswegen ist das so hängen- geblieben. Dann erinnere ich mich auch sehr gerne an den deutschen Rekord in der Halle im Jahr 2007. Ein Highlight war auch die EM 2018 in Berlin. Jeder hatte mich abgeschrieben. 2016 bin ich nach meiner Knieoperation aus dem DLV-Kader geflogen. Ich habe es dann trotzdem hinbekommen, mich für die EM zu qualifizieren und im Finale zu sein. Als einzige deutsche Stabhochspringerin. Das hat mich megastolz und glücklich gemacht. 

    Kann man solche Erfolgserlebnisse auf das Leben danach übertragen?

    Hingst: Ja, klar. Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein. Fokussierung. Positives Denken. Ich vermittle meinen Kunden im Personal-Training und bei den Seminaren und Vorträgen immer Analogien, die sie in ihr eigenes Leben transformieren können. Das ist das, was mir sehr am Herzen liegt und was ich mit viel Liebe und Leidenschaft weitergebe.

    Ist es einem Nicht-Spitzensportler überhaupt vermittelbar, wie ein Spitzensportler tickt?

    Hingst: Viele denken, dass man als Hochleistungssportler geboren wird. Nein. Ich war eine ganze normal Breitensportlerin – habe es aber geschafft, von Jahr zu Jahr körperlich immer fitter zu werden und mich in die Materie mentale Stärke und psychische Stabilität reinzuarbeiten, damit ich maximale Leistung abrufen konnte. Viele haben ein Ziel, wissen aber gar nicht, wie sie es erreichen können. Dafür bin dann ich da. (lacht)

    Zur Person:

    Carolin Hingst, 43, ist in Donauwörth geboren und begann mit dem Sport beim TSV Harburg und der KTV Ries. Mit 18 Jahren kam sie zum Stabhochsprung und startete bis 2001 für die LG Donau-Ries, später dann für den USC Mainz und die TG Nieder-Ingelheim. Ihre internationale Premiere feierte Hingst 2001 bei der Leichtathletik-WM in Edmonton. 17 Jahre später stand sie bei der EM in Berlin noch einmal im Finale. Ihr größter Erfolg: Platz sechs bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Ihren letzten Wettkampf absolvierte Carolin Hingst am 6. Juli bei den deutschen Meisterschaften. Ende Oktober gab Hingst ihren Rücktritt bekannt. 

    Serie: Aller Ende ist schwer

    Dem richtigen Zeitpunkt für das Karriereende zu finden, fällt vielen Sportlerinnen und Sportlern schwer. Oft wir die Entscheidung möglichst lange hinausgezögert. Viele haben ihren Zenit dann längst überschritten. In unserer Serie "Aller Ende ist schwer" beleuchten wir das Thema aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden