Mit einem breiten Grinsen stand Leo Neugebauer vor der Gruppe deutscher Journalisten und sollte erzählen, wie er die beiden Zehnkampftage von Paris erlebt hatte. Dabei kam schnell die Frage auf: Silber gewonnen oder Gold verloren? In den Schlagzeilen unmittelbar nach dem Ende des olympischen Zehnkampfes gab es beide Varianten zu lesen. Neugebauer selbst hatte eine klare Antwort: „Mehr als eine Silbermedaille bei Olympischen Spielen kann man nicht erwarten.“ Er hadere nicht mit dem Ergebnis. „Die Arbeit, die ich das ganze Jahr gemacht habe, ist endlich fertig. Eine Medaille mitnehmen zu dürfen, ist mir eine Ehre. Silber ist sogar noch mal besser, ich freue mich.“
Ein paar Wackler am zweiten Wettkampftag
Mit ein bisschen Abstand wird dennoch die Erkenntnis reifen, dass Gold zum Greifen nahe lag. Als Führender war Neugebauer in den zweiten Tag gegangen, hatte dann aber mit dem Diskus und im Stabhochsprung ein paar Wackler. Die nutzte der norwegische U23-Europameister Markus Rooth, übernahm die Spitzenposition und gewann mit 8796 Punkten die Königsdisziplin der Leichtathletik. 48 Zähler Vorsprung hatte er am Ende vor Neugebauer. Dessen Weltjahresbestleistung steht bei 8961 Punkten. Im Juni hatte er damit seinen eigenen deutschen Rekord verbessert. Bronze ging in Paris an Victor Lindon aus Grenada (8711).
Olympisches Silber hatte ein deutscher Zehnkämpfer letztmals in Person von Frank Busemann vor 28 Jahren gewonnen. Jetzt also Neugebauer. Dessen Erfolgsrezept: „Ich habe einfach mein Ding gemacht, habe mein Bestes gegeben. Das ist alles, was zählt.“ Unter dem Strich sei sein Mehrkampf ganz okay gewesen, ganz normal. „Da sind immer Höhen und Tiefen dabei. Da muss man gut damit umgehen, einfach sein Ding weiter machen und weiter kämpfen.“ Speziell im Stabhochsprung habe er zwar „schon ein bisschen mehr“ gewollt, aber man könne eben nicht jeden Tag das Beste abrufen. „Du musst einfach eine Disziplin nach der anderen abarbeiten und nicht nach vorn oder nach hinten schauen.“
Niklas Kaul lobt seinen Kollegen Leo Neugebauer
Respekt und Anerkennung gab es von seinem Teamkollegen Niklas Kaul. „Leo war saustark, das war richtig gut“, lobte der. Einen Zehnkampf trotz zwischenzeitlicher Wackler noch so zu Ende zu bringen, „ist wirklich wahnsinnig stark. Es zeichnet große Zehnkämpfer aus, dass sie das dann auch im richtigen Moment hinkriegen. Das hat er gemacht.“ Dabei habe er auch aus den Erfahrungen der WM des vergangenen Jahres die richtigen Schlüsse gezogen. In Budapest war Neugebauer ebenfalls in Führung liegend in den zweiten Tag gegangen und wurde auf Platz fünf durchgereicht. „Dass er daraus so gelernt hat, davor kann ich nur den Hut ziehen“, sagte Kaul.
Er selbst wiederum, immerhin Weltmeister von 2019, hatte den „mental brutalsten Zehnkampf“ seiner Karriere hinter sich gebracht. Den ersten Tag beendete er auf Platz 21, kaum etwas hatte funktioniert. „Mit den letzten beiden Disziplinen kann ich mich dann doch noch anfreunden“, sagte er im Rückblick. Mit dem Speer und über die 1500 Meter verbesserte er sich in der Gesamtwertung noch auf den achten Rang. „Ich habe meinen Frieden mit Paris gemacht.“
Markus Rooth hat einen „krassen Wettkampf“ gezeigt
Dass Markus Rooth Gold holte, kam auch für ihn überraschend. „Es war klar, dass man die beiden Norweger auf der Rechnung haben muss. Dass einer von den beiden dann Olympiasieger wird, hätte ich nicht gedacht. Ich hätte da eher mit Leo oder Damian Warner gerechnet.“ Letztgenannter hatte sich mit drei Fehlversuchen im Stabhochsprung aus dem Medaillenrennen verabschiedet. Wegen einer Verletzung gar nicht erst angetreten war der Weltrekordhalter Kevin Mayer aus Frankreich. Neugebauer wiederum sagte, dass er sich während des Wettkampfs vor allem auf sich konzentriert habe. Dass Rooth aber einen „krassen Wettkampf“ zeigte, war ihm natürlich nicht entgangen. „Er hat einfach perfekte Leistungen gebracht. Aber ich kann nicht unglücklich sein. Ich fühle mich sehr erleichtert. Eine Medaille gewinnen zu dürfen, ist einfach unbeschreiblich.“
„LeotheGerman“, wie sich Neugebauer in den sozialen Medien selbst nennt und vermarktet, ist ein Profiteur des amerikanischen Collegesystems und hat gerade sein Studium an der University of Texas beendet. Dank ihres Footballteams, den Texas Longhorns, verfügt die Universität über einen Sport-Etat von rund 220 Millionen Euro - mehr als der Deutsche Leichtathletik-Verband. Trotz seines abgeschlossenen Studiums darf er dort weiter trainieren und will diese Gelegenheit auch wahrnehmen. Denn ein großes Ziel geisterte am Samstagabend schon durch die Katakomben des Stade de France: die Olympischen Spiele in Los Angeles. Dort wäre Neugebauer 28 Jahre alt und im besten Zehnkämpferalter. Zwei deutsche Zehnkampf-Olympiasieger gab es mit Christian Schenk (1988) und Willi Holdorf (1964) schon. Vielleicht stellt sich 2024 dann die Frage gar nicht mehr, ob da jemand Gold verloren oder Silber gewonnen habe.
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