Ein Tor, das schon beantwortete Fragen wieder aufwirft
Die Nationalmannschaft schien auf einem guten Weg zu sein. Das 0:1 gegen Ungarn lässt nun aber an Grundsätzlichem zweifeln. Eine Chance bleibt für einen Stimmungsumschwung.
Es braucht lange, Vertrauen aufzubauen. Es einzureißen dagegen, benötigt nur kurze Zeit. In den ersten 13 Spielen seiner Amtszeit als Bundestrainer vermittelte Hansi Flick zusammen mit seiner Mannschaft das Gefühl, dieses Team könne bei der WM in Katar zumindest ein aussichtsreicher Außenseiter auf den Titel sein. 90 Minuten und eine 0:1-Niederlage gegen Ungarn später hingegen gilt den meisten Fans die deutsche Elf als Wackelkandidat für das Überstehen der Gruppenphase. Die 14. Partie unter der Leitung Flicks war mit Abstand die schwächste. "Die erste Halbzeit war die schlechteste Halbzeit in den letzten 14 Spielen. Wenig Mut, wenig Vertrauen, wenig Dynamik, wenig Intensität – viele Fehler", galoppierte Flick selbst schnell durch die Mängelliste.
Am liebsten hätte er wohl noch am Freitag seiner Mannschaft recht direkt und ohne sich in Details zu verlieren die Blitzanalyse geliefert . Aber: "Ab und zu sollte man nicht ganz seine Emotionen rauslassen."
Spiel gegen England: Die letzte Chance, sich für die WM zu empfehlen
Wenn seine Mannschaft nun aber am Montag im Wembley-Stadion gegen England antritt (20.45 Uhr/RTL), wird er einen anderen Auftritt als jenen fehlerhaften am Freitag erwarten. Schließlich ist die Partie in London die letzte im Nationaldress, ehe Flick im November den WM-Kader benennt. Das 0:1 dürfte einigen Spielern die Tür wieder ein wenig geöffnet haben, während andere um ihr Ticket bangen müssen. Serge Gnabry beispielsweise fügte seinen schwachen Leistungen für den FC Bayern nun auch ebenso schwache 45 Minuten für die Nationalmannschaft hinzu.
Timo Werner zeigte, dass ihm das bei Chelsea abhandengekommene Selbstverständnis seit seiner Rückkehr nach Leipzig noch nicht wieder zugeflogen ist. David Raum wiederum lieferte keine Argumente, weshalb er den Vorzug vor Robin Gosens erhalten sollte, der sich bei Inter Mailand allmählich wieder an seine zuvor so starke Form herantastet. Nachdem die Mannschaft nun in den vergangenen sechs Spielen nicht ohne Gegentor geblieben ist, dürfte sich auch Mats Hummels wieder leise Hoffnungen machen, ein abermaliges Comeback in der DFB-Elf zu geben.
Deutschland trifft am Montag auf England
Doch natürlich stehen nicht nur die deutschen Kicker zwei Monate vor Turnierbeginn recht ratlos vor der eigenen Formentwicklung. Die Engländer beispielsweise gewannen keines ihrer vergangenen fünf Spiele, verloren am Freitag mit 0:1 gegen Italien und stehen somit als Absteiger aus der höchsten Liga der Nations League fest. Nur drei Monate zuvor kam das 0:4 zu Hause gegen Ungarn einer Demütigung gleich.
Diese Probleme Flicks hätte Gareth Southgate gerne. In der Öffentlichkeit wird diskutiert, ob der englische Nationaltrainer bei einer Niederlage gegen Deutschland noch vor der Weltmeisterschaft ausgetauscht werden sollte. Dabei galt das britische Team vor einem Jahr noch als einer der Titelfavoriten, die Niederlage im EM-Finale sollte nur ein benötigtes Hindernis auf dem Weg zu einem großen Titel sein. Verloren hatte man im Übrigen gegen Italien, das sich nun im direkten Duell mit Ungarn um den Gruppensieg balgt. Beide würden zweifelsfrei dafür eine Teilnahme an der WM eintauschen – daran nämlich scheiterten sie.
Jamal Musiala dürfte von Beginn an spielen
Die Probleme anderer helfen mitunter, die eigenen zu relativieren – aus der Welt sind sie deswegen aber noch nicht. Und so bleibt die Frage, wie Flick gedenkt, den harmlos-ängstlichen Vortrag gegen Ungarn als Ausnahme der Regel erscheinen zu lassen. Wahrscheinlich nimmt dabei Jamal Musiala eine Hauptrolle ein. Der 19-Jährige kam am Freitag erst Mitte der zweiten Halbzeit in die Partie und konnte nicht mehr für die Wende sorgen. Gegen England aber dürfte er von Beginn an spielen.
"Jamal hat das gewisse Etwas, wenn eine Mannschaft tief steht und kompakt verteidigt", so Flick. "Er hätte uns sicherlich in der ersten Halbzeit auch gutgetan. Aber wir haben uns für elf andere Spieler entschieden" – von denen aber keiner nach der Leistung den Anspruch ableiten kann, unersetzlich zu sein. Für Musiala hätte ein Auftritt in einer der Kathedralen des Weltfußballs zudem noch eine höhere Bedeutung als für den Rest des Kaders. Zwischen seinem siebten und 16. Lebensjahr lebte und spielte Musiala in London, trug das Trikot des FC Chelsea. "England ist mein zweites Zuhause", sagt er noch heute.
Die Reise nach England nicht mitangetreten haben der gelbgesperrte Antonio Rüdiger sowie Lukas Nmecha, der an Kniegelenksbeschwerden leidet. Der Wolfsburger Stürmer darf aber aufgrund seines Alleinstellungsmerkmals (fundierte Ausbildung als Mittelstürmer klassischer Bauart) immer noch auf eine WM-Nominierung hoffen. Für etliche andere Kandidaten wird das Spiel in England tatsächlich zur Bewährungsprobe. Auch ein Bundestrainer kann Vertrauen verlieren.
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