Einen Monat vor der Fußball-WM: Sorgen, nichts als Sorgen
Vor der WM in Katar hofft Bundestrainer Hansi Flick, dass sich kein Spieler mehr verletzt. Denn sein Gebilde ist äußerst brüchig. Die Nationalelf im Teamcheck.
Es ist eben vieles anders. Statt sich einen Monat vor Turnierbeginn seiner Mannschaft allmählich anzunehmen, sitzt der Bundestrainer noch auf den Tribünen der Republik. Beobachtet seine Kandidaten, bewertet sie – und muss immer wieder erleben, wie seine brüchigen Pläne weitere Risse erhalten. Am 20. November startet die Weltmeisterschaft in Katar mit dem ewig jungen Klassiker der Heimmannschaft gegen Ecuador. Die deutsche Mannschaft wird sich dann im Norden des kleinen Landes befinden und am Fernsehen die erste Partie verfolgen, ehe sie drei Tage später gegen Japan selbst in die WM startet.
Wer zur illustren Reisegruppe gehört, ist nicht vorherzusagen. So hat Flick zwar gewiss mehr als nur grobe Vorstellungen, wen er in drei Wochen nominiert. Die vergangenen Tage haben aber auch gezeigt, dass Wunsch und Wirklichkeit mal wieder nicht miteinander harmonieren. Verletzungen, Formschwächen und Corona beeinflussen den Bundestrainer in unliebsamer Weise bei der Auswahl seines Kaders. In beinahe jedem Mannschaftsteil muss sich Flick um einen seiner Hauptdarsteller sorgen.
Im Tor: Sollte Neuer wirklich Nummer 1 sein?
Mittlerweile ist es vor Weltmeisterschaften zur Gewohnheit geworden, auf das medizinische Bulletin aus München zu warten. An der Einsatztauglichkeit von Manuel Neuer bestanden sowohl vor der WM in Brasilien 2014 als auch vier Jahre später in Russland erhebliche Zweifel. Während Neuer nach seiner Schulterverletzung etwaige Zweifel an seiner Form schnell zerstreute und auch mit seinen Paraden und Auftritten als Aushilfslibero zum Titel führte, wird sein Auftritt 2018 auch intern nicht durchweg positiv gesehen. Nach zwei Mittelfußbrüchen, einer neunmonatigen Pause und ohne Spielpraxis stellte Joachim Löw dem Kapitän eine Einsatzgarantie aus. Ersatzmann Marc-André ter Stegen fasste das nicht vollkommen unverständlich als Affront auf.
Derzeit plagt Neuer eine Schulterprellung, zuvor musste er wegen einer Corona-Infektion aussetzen, die letzten beiden Länderspiele vor der WM-Nominierung bestritt ter Stegen. Neuer wird wohl auch diesmal noch rechtzeitig vor dem Turnier fit werden - fraglich aber, ob es sich sein Vertreter aus Barcelona auch diesmal verkneift, eine Entscheidung pro Neuer zu kritisieren.
In der Abwehr: Eher schwerer als stabiler Anker
In Antonio Rüdiger hat Flick derzeit lediglich einen Innenverteidiger, der vorbehaltlos in Zweikämpfe mit den besten Stürmern der Welt geschickt werden könnte. Die Dortmunder Niklas Süle und Nico Schlotterbeck haben sich schnell der Dortmunder Eigenart angepasst, durch die Saison zu wankelmüten. Als steter Mahner versucht Mats Hummels das Team zur Stabilität zu erziehen, mancherlei Kandidat erweist sich allerdings als resistent gegenüber diesem Vorhaben. Hummels hat zudem von Flick seit dessen Amtsübernahme keine Einladung zu einem Länderspiel erhalten.
Auf den defensiven Außenbahnen zeigt sich eine kaum bessere Aussicht. Der von Flick umgeschulte Jonas Hofmann zog sich beim Pokal-Aus Gladbachs gegen Darmstadt eine Schulterverletzung zu – wie lange er ausfällt, ist noch unklar. Thilo Kehrer hat sich nach seinem Wechsel von Paris St. Germain zu West Ham United einen Stammplatz erkämpft und agiert weitestgehend stabil. Flick hält viel von seiner disziplinierten Spielweise. Auf der linken Seite findet David Raum in Leipzig allmählich zu der Form, die ihn während seiner Hoffenheimer Zeit zuvor in die Nationalmannschaft brachte. Robin Gosens wiederum kämpft bei Inter Mailand immer noch um einen Stammplatz, durfte in dieser Saison in der Liga aber noch kein einziges Mal von Beginn an ran. Als stabiler Anker dürfte die Defensive zum derzeitigen Zeitpunkt nur schwerlich gelten.
Im Mittelfeld: Der große Trumpf von Bundestrainer Flick
Das einzige Mannschaftsteil, um den sich Flick derzeit nicht zu sorgen braucht. Leon Goretzka und Joshua Kimmich zeigen sich in München ebenso in guter Form wie auch Ilkay Gündogan in Manchester, wo ihm Pep Guardiola diese Saison anscheinend eine wichtigere Rolle einnehmen lässt als noch in der vergangenen Spielzeit. Jamal Musiala wirbelt immer noch beeindruckend unbeeindruckt durch die gegnerischen Reihen und gilt als einer der möglichen Stars der WM. Die Auswahl ist derart groß, gut und variabel, dass sich Flick bei allen Sorgen immer mal wieder einen Blick auf sein Mittelfeld gönnen dürfte, um sich ein wenig zu beruhigen.
Im Angriff: Viel Auswahl, zu wenig Qualität bei der Nationalmannschaft?
Die Auswahl im Sturm ist ebenfalls groß – an der Qualität aber gibt es berechtigte Zweifel. So zeigte sich Leroy Sané zuletzt zwar in der wohl besten Form, seit er nach München wechselte, allerdings macht eben genau jetzt ein Muskelfaserriss die WM-Teilnahme zumindest ein wenig unsicher. Serge Gnabry hing einige Zeit durch und scheint erst allmählich wieder in Schwung zu kommen, Marco Reus hat gerade erst eine Verletzungspause hinter sich und Thomas Müller ist wie immer dafür zu haben, Thomas-Müller-Sachen zu machen.
Die größten Probleme aber hat Flick dort, wo blöderweise das Tor steht: Im Zentrum. Timo Werner hat trotz Rückkehr nach Leipzig noch nicht zu alter Form zurückgefunden. Kai Havertz überzeugte zuletzt im Nationaldress als Doppel-Torschütze gegen England, konnte sich bisher aber noch nicht als beständig treffender Stürmer etablieren. Niclas Füllkrug hingegen trifft regelmäßig – und schon acht Mal in der laufenden Saison für den SV Werder Bremen. Sein etwas weiträumigeres Spiel ist nicht deckungsgleich mit den kleinteiligeren Kombinationen der Nationalmannschaft. Allerdings bringt der Bremer mehr technische Fertigkeiten mit als ab und an angenommen und glänzt auch immer wieder als Vorbereiter. Da Flick diesmal 26 statt der üblicherweise 23 Spieler nominieren darf, gilt Füllkrug als jener Spieler, den es sich lohnt, zur Erweiterung der eigenen Möglichkeiten der Reisegruppe zuzufügen.
Die Diskussion ist geschlossen.