Das Mädchen
Die Geschichte einer elenden Kindheit, die nicht satt macht.
Nichts bleibt hängen an diesem Mädchen. Kein Gramm Fett, obwohl sie doch ständig isst. Auch mal zwölf Hefeklöße. „Gerippe“ wird sie genannt, wenn jemand sie mag, sagt er „Rippchen“. Sie selbst „kommt sich wie eine Stabheuschrecke vor oder ein Stelzvogel“. Ein dürres Kind, Haut und Knochen und eine Welt um sich herum, die nicht zum Sattmachen reicht. Verknappt ausgedrückt: Vater Kellner, Trinker, Mutter Verkäuferin, Trinkerin, Tyrannin. Das Mädchen will eigentlich „nur davonkommen und manchmal gelingt es ihr“. Und wenn nicht? Dann verschwindet sie „in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da“.
Sich wegträumen aus einer Welt, die es offiziell nicht gibt
In einem Mietshaus in einer ostdeutschen Stadt, an der Hauswand Einschusslöcher aus dem Krieg, lässt Angelika Klüssendorf ihren beeindruckenden Roman beginnen. 184 Seiten. Sehr viel für eine Schriftstellerin, die durch ihre Kurzgeschichten bekannt wurde, und sehr viel auch für den Leser, der sich auf diese Geschichte einer elenden Kindheit einlässt. Am Ende liegt „Das Mädchen“ im Gras, träumt sich weg aus seiner Welt, die es offiziell im Sozialismus gar nicht gab und die man heute gerne mit den Worten „bildungsfernes Milieu“ beschreibt.
Klüssendorf schreibt schonungslos, im Präsens, gönnt kein Entrinnen, keinen Ausweg, auch nicht ihrer jungen Protagonistin. Nachts, als das Mädchen einmal aufwacht, sieht sie ihre Mutter, die mit Stricknadeln ein ungewolltes Kind abtreibt. Später erzählt ihr die Mutter, das habe sie damals auch mit ihr versucht. Weniger Liebe geht nicht.
Dieser Mangel aber bleibt hängen, verletzt, verhärtet. Zu Hause wird sie Zeugin, wie ihre Mutter betrunken ihren Bruder quält. „Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.“ Später wird sie in ein Kinderheim eingewiesen und spielt die Szene nur wenig abgewandelt mit jüngeren Kindern nach.
Und dennoch: Angelika Klüssendorf schreibt berührend, mit Mitgefühl, aber keine Tränenprosa. Das schmale, vernachlässigte Kind weiß sich zu helfen, entwickelt Überlebensstrategien, stiehlt Schokolade, ergattert Freunde, nimmt sich ein wenig Kindheit und entdeckt die Auswege, die Bücher bieten. Es liest im Bett, heimlich in der Schule, Gedichte, Romane, „Brehms Tierleben“. Ein kluges Kind also, das sich selbst beobachtet, als wäre es eines der von Brehm skizzierten Tiere. Eine Stabheuschrecke, dürr, hungrig, gepanzert und räuberisch. Deswegen auch noch am Leben.
Angelika Klüssendorf: Das Mädchen. Kiepenheuer& Witsch 184 S., 18,99 Euro
Mit Zuckerguss ins Wochenende
Jeden Freitag leckere Rezeptideen, Tipps und Tricks rund ums Backen.
Kostenlos Newsletter abonnieren