G. E. Lessing, anerkannter deutscher Großgeist, schrieb unumwunden: „Lasst uns faul in allen Sachen,/ Nur nicht faul zu Lieb' und Wein,/ Nur nicht faul zur Faulheit sein.“ Und die alten Philosophen verabscheuten die Arbeit als des Menschen unwürdig. „Die Natur“, schreibt Plato, „hat weder Schuhmacher noch Schmiede geschaffen; solche Berufe entwürdigen die Leute, die sie ausüben.“ Seiner Meinung nach sollte ein Bürger, den man bei der Arbeit erwischt, „für dieses Verbrechen bestraft werden. Wird er überführt, so soll er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt werden. Bei jedem Rückfall ist die Strafe zu verdoppeln.“
Wozu aber faul sein? Sind wir nicht deutsch, also effektiv, schnell und gründlich? Gewiss, gegen diese inneren und äußeren Verpflichtungen werden die meisten von uns nichts unternehmen können. Und doch spüren wir insgeheim, dass Plato Recht hatte mit seiner Ansicht, Arbeit sei letztlich Sklavensache, jedenfalls dann, wenn sie uns einem fremden Willen unterwirft, der nicht unserer ist, und einem fremden Rhythmus.
Die neue Technologien verlangen immer mehr speed, immer mehr Output, immer mehr Anpassung. Eine neue Softwareversion lässt uns innerhalb von zwei Jahren alt erscheinen; geschriebene Worte, die noch vor 20 Jahren Tage bis zum Gesprächspartner brauchten, erreichen ihn jetzt in Sekunden. „Hast du meine E-Mail schon?“ Wer nicht mitmacht, dem drohen Job-, Prestige- und Geldverlust.
Schnell kommt das Gefühl auf, nicht leisten zu können, was geleistet werden muss, Existenzangst lauert im Hintergrund, Stress stellt sich ein. Wir hetzen durchs Leben, werden „hurry sick“, wie die Amerikaner das nennen und können uns auch in der Freizeit immer weniger entspannen. Die einen brennen aus, die anderen treten den inneren Rückzug an, dritte nehmen Tabletten, werden krank, depressiv oder aggressiv. Und irgendwann kommt der Herzinfarkt.
Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, schrieb 1883 in seiner „Widerlegung des ‚Rechts auf Arbeit’“: „In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung.“ Dem DAK-Gesundheitsreport zufolge stieg die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen zwischen 1997 und 2002 um 63 Prozent. Die WHO hält Stress für eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts.
Faulheit, recht verstanden, ist also nicht der Gegenpol zur Freude an der Arbeit, sondern deren Grundlage, Faulheit als Stresskiller, als die Fähigkeit, seine Kräfte neu zu sammeln, sich zu erholen, den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen, sich im Auge des Sturms ein Tässchen Kaffee zu gönnen, um dann umso konzentrierter vorzugehen. Genau da aber liegt der Hase im Pfeffer. Eine Untersuchung der Deutschen Sporthochschule Köln an über 5.000 Frauen und Männern zeigte, dass 70 Prozent sich nicht genügend Erholungsmöglichkeiten verschaffen und nicht rechtzeitig von Arbeit auf Erholung umschalten können. Insbesondere Frauen schieben die benötigte Erholung immer wieder auf. Mit der Folge, dass sie in Zustände der Erschöpfung geraten.
Zu ihrem eigenen Schaden sind die meisten Deutschen der Meinung, Erholung trete von selbst ein, sobald die Arbeit vorüber ist. Erholung aktiv in die Hand zu nehmen - vom Schläfchen bis zum Spaziergang, von Sex bis Sauna, von Yoga bis Zen -, ist die Ausnahme. Nur 19 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer managen ihre eigene Erholung. So ist Stress für viele zu einem allgegenwärtigen Lebensgefühl geworden, das mit den realen Umständen nichts zu tun hat. Denn tatsächlich arbeiten die Deutschen im Jahresschnitt - alle Krankheits-, Urlaubs-, Feiertage und Wochenenden mit einbezogen - gerade einmal 25 Stunden pro Woche und haben gleichzeitig ca. 85 Stunden Freizeit. Trotzdem leiden sie unter dem Eindruck, keine Zeit zu haben. Paradox!
Faulheit lässt sich also auch als Realitätssinn auffassen, der die Tatsache der freien Stunden genießt, der Spontaneität zulässt und persönliche Glücksmomente, der Gelegenheiten wahrnimmt und beim Schopf packt. Mit Zeitmanagement hat das nichts zu tun, sondern eher mit Lebensmanagement. Lothar J. Seiwert nennt das Life-Leadership. Der gefragte Coach, der u.a. IBM, Daimler-Chrysler, Hewlett-Packard und Porsche zu seinen Kunden zählt, hält Faulheit für eine Aktie, in die sich zu investieren lohnt. „Geld“, sagt er, „kann man vermehren. Aber die Zeit? Die ist unwiederbringlich weg. Ist man sich dessen bewusst, dann verändert sich etwas.“
Dann besinnt man sich vielleicht wieder auf Qualitäten, die zunehmend in Vergessenheit geraten: Muße, Müßiggang, Geduld, Stille, Hingabe, Beschaulichkeit. Allesamt klingen sie nach anno dazumal, Begriffe aus der Mottenkiste. Übrig geblieben ist nur das moderne Wort „Faulheit“, und das ist negativ besetzt. Denn schließlich ist Zeit doch Geld, nicht wahr?