Stresstest für das Stromnetz
Der Ausbau der Leitungen hinkt um bis zu vier Jahre hinterher. Die Hälfte der dringendsten Projekte stockt
Berlin Jürgen Großmann gilt nicht nur als einer der schillerndsten deutschen Energiemanager. Der RWE-Chef führt auch die Front derer an, die vor Stromausfällen warnen. Schon ein kurzer Blackout koste eine Milliarde Euro, betont Großmann mit Blick auf den Atomausstieg bis zum Jahr 2022. Vor Aktionären hat er bereits gewarnt: „Um einen bundesdeutschen Blackout zu vermeiden, kann es notwendig sein, einzelne Regionen in Süddeutschland – etwa in der Größe des Großraums Stuttgart – dunkelzuschalten“. Großmann zweifelt, ob das deutsche Netz fit genug ist, um einen Atomausstieg abzufedern.
Erst 214 von 1807 benötigten Kilometern wurden gebaut
Ein am Freitag veröffentlichter Bericht der Bundesnetzagentur in Bonn stützt Großmanns Sichtweise. Gerade der Winter mit hohen Belastungen könnte zum Stresstest für das Netz werden. Das größte Problem ist das Tempo beim Bau neuer Stromautobahnen, die den Strom über das bisher rund 35000 Kilometer lange Höchstspannungsnetz zu den Leitungen der unteren Spannungsebenen bringen, die vergleichbar sind mit Land- und Gemeindestraßen. Von dort kommt der Strom zum Verbraucher.
Im August 2009 waren im Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) 24 besonders wichtige Neubauprojekte identifiziert worden. Doch der Ausbau kommt mehr als schleppend voran, wie die Studie der Bundesnetzagentur belegt. Erst 214 von 1807 Kilometern sind bei den 24 Projekten in die Landschaft gebaut worden. Der Zeitverzug liegt teilweise bei bis zu vier Jahren. Da ist zum Beispiel die Trasse Kassø (Dänemark)– Hamburg/Nord – Dollern, die zum Windstromtransport von der Küste wichtig ist. Von 187 Kilometern ist noch keiner gebaut, die Planungsphase noch nicht abgeschlossen. Besonders wichtig, um den Atomstrommangel im Süden durch mehr Windstrom aus Ostdeutschland zu kompensieren, ist die Trasse Lauchstädt – Redwitz über den Thüringer Rennsteig, hier sind nur 76 von 200 Kilometern gebaut. Auch eine Fortführung der Trasse in das bayerische Grafenrheinfeld ist erst in der Planung. Dort gibt es wegen der Stilllegung des Atomkraftwerks, die 2015 erfolgen soll, eine gute Anbindung zum Weitertransport von hohen Strommengen.
Aus Sicht der Bundesnetzagentur ist der Neubau der Leitungen dringend geboten. Die bestehenden Netze seien „durch die Vielzahl der in den letzten Jahren zu erfüllenden Transportaufgaben und die Veränderung der Erzeugungsstruktur am Rand der Belastbarkeit angekommen“. Nach Schätzung der Deutschen Energie-Agentur sind bis zu 4450 Kilometer neue Stromautobahnen bis 2020 notwendig, etwa um Windstrom, der vor den Küsten produziert wird, in den Süden zu bekommen.
Manche Energieexperten halten diese Zahlen für übertrieben. Es gehe auch mit weniger, wenn mehr Windräder im Süden aufgestellt werden, also dort, wo bisher mehr als die Hälfte des Stroms aus Atomkraftwerken kam. Mit einer besseren Steuerung der Lasten und der Verstärkung bestehender Trassen mit leistungsfähigeren Seilen könnte der Ausbaubedarf ebenfalls gemindert werden. (dpa)
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