Herr Vassiliadis, das Motto der Gewerkschaften zum Tag der Arbeit am 1. Mai lautet: „Mach dich stark mit uns.“ Sie machen sich als Vorsitzender der Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie und Energie für eine einmalige Vermögensabgabe für Superreiche stark. Dabei sind Sie bisher nicht als Milliardärs-Schreck in Erscheinung getreten. Was treibt Sie um?
Michael Vassiliadis: Die Bundesbank hat uns gerade vorgerechnet, dass die Privatvermögen der Deutschen die Neun-Billionen-Euro-Marke überschritten haben. Gewachsen sind sie übrigens nur bei den reichsten zehn Prozent, auf die inzwischen allein die Hälfte des Gesamtvermögens entfällt. Die Reichen profitieren also überdurchschnittlich von Deutschlands Wirtschaftsstärke und sind offenkundig von all den Krisen der Vergangenheit kaum betroffen. Da wäre es nicht nur ein Zeichen von Solidarität und Verantwortungsübernahme, sondern auch ökonomisch sinnvoll, wenn sie in den Turnaround des Landes investieren würden.
Das steht alles natürlich nicht im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Deutschlands Mega-Reiche müssen keine Angst haben.
Vassiliadis (lacht): Ich habe den Vorschlag ganz bewusst in der jetzigen Situation gemacht. Viele sehen auch die Vorzüge: Erstens schlagen wir eine einmalige Abgabe vor und damit keine Steuer. Zweitens soll die Abgabe lediglich das reichste Promille der Bevölkerung umfassen, also etwa 84.000 Menschen mit Vermögen deutlich jenseits von zehn Millionen Euro pro Kopf.
Wie viel Geld würde der Staat mit einer solchen Abgabe einsammeln?
Vassiliadis: Allein durch eine einmalige Abgabe in Höhe von fünf Prozent kämen mehr als 175 Milliarden Euro zusammen. Das ist alles verkraftbar. Wir brauchen frische Ideen, die großen Aufgaben zu finanzieren, vor denen wir stehen. Das hier ist eine. Die neue Koalition hat sich da leider nicht herangetraut – obwohl sie offensichtlich Geld sucht. Das ist schade.
Aber auch verständlich. Eine Vermögensabgabe passt nicht zum Markenkern der CDU und schon gar nicht in die Welt von Friedrich Merz.
Vassiliadis: Auch Menschen mit großen Vermögen profitieren davon, wenn die Infrastruktur funktioniert. Vor allem aber wären sie die größten Nutznießer, wenn Deutschlands Wirtschaft mit einer verbesserten Infrastruktur wieder durchstartet. Am Ende reden wir also de facto von einer Investition in die eigene Vermögensmehrung. Was sollten die Mehrfach-Millionäre und Milliardäre dagegen haben?
Wie heftig waren die Prügel, die Sie für den Vorstoß einstecken mussten?
Vassiliadis: Die Prügel blieben aus. Man hat die Idee eher still ignoriert. Also Augen, Ohren und Mund zu.
Das klingt frustrierend.
Vassiliadis: Nein, sowas dauert. Das kennen wir, und wir werden da nicht locker lassen. Es gehört zu unserer historischen Erfahrung, dicke Bretter zu bohren. Die IG BCE als zweitgrößte Industrie-Gewerkschaft Deutschlands ist nicht ohne Einfluss. Das spüren auch die Beschäftigten in unseren Branchen: Was die Mitgliederzahlen betrifft, verzeichneten wir im vergangenen Jahr einen Zugangsrekord. Mit 35.300 Frauen und Männern entschieden sich noch einmal elf Prozent mehr Menschen neu für eine Mitgliedschaft in unserer Gewerkschaft.
Woran liegt das?
Vassiliadis: Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass die Einkommen der Chemie-Beschäftigten mit der April-Abrechnung dauerhaft um 4,85 Prozent steigen, was das dickste Plus seit 33 Jahren ist. Und Gewerkschaftsmitglieder erhalten einen zusätzlichen freien Tag.
Apropos Geld: Noch ist die Koalition nicht im Amt, doch SPD und Union streiten bereits heftig über die Art und Weise der Erhöhung des Mindestlohns von jetzt 12,82 auf 15 Euro pro Stunde. Dabei sollte das nicht die Regierung, sondern zunächst die dafür vorgesehene Mindestlohn-Kommission entscheiden, in der Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Wissenschaft sitzen.
Vassiliadis: Die Mindestlohn-Kommission sollte ohne Einmischung der Politik einen Vorschlag erarbeiten, wie stark und wann der Mindestlohn angehoben wird. Im Koalitionsvertrag steht lediglich, dass sich eine Anhebung des Mindestlohnes auf 15 Euro aus sozialen Überlegungen begründen lässt. Das ist richtig, und das teilen wir voll und ganz. Nun muss und wird die Mindestlohn-Kommission diese Frage lösen.
Doch der Streit über den Mindestlohn ebbt nicht ab.
Vassiliadis: Die Politik sollte der Kommission keine politischen Vorgaben machen und das Thema nicht andauernd neu befeuern. Am Ende hat die Regierung, wenn die Kommission einen Vorschlag gemacht hat, ohnehin das letzte Entscheidungsrecht. Ich warne jedenfalls vor einer völlig faktenfreien öffentlichen Debatte über den Mindestlohn.
Über das geplante neue Arbeitszeitrecht wird ebenso heftig diskutiert.
Vassiliadis: Das Thema ist von den Arbeitgeberverbänden konstruiert und wird völlig überwertet.
Warum denn? Falls die durchschnittliche tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden durch eine wöchentliche maximale Arbeitszeit von 48 Stunden ersetzt würde, könnten Beschäftigte flexibler arbeiten. Das ist doch positiv.
Vassiliadis: Wo wir Tarifverträge geschlossen haben, sind die Arbeitszeit-Regelungen bereits maximal flexibilisiert. Aber es gibt auch Grenzen: In vielen Produktionsbereichen, zum Beispiel in der Chemieindustrie, wird rund um die Uhr gearbeitet – und das an sieben Tagen der Woche, 365 Tage im Jahr. Da braucht es fein austarierte Schichtmodelle. Hier bringt die Wochenarbeitszeit-Regelung gar nichts. Außerdem stehen die Vorgaben zur Tages-Höchstarbeitszeit nicht ohne Grund im Gesetz: Sie basieren auf Erkenntnissen der Arbeitsmedizin und dienen dem Gesundheitsschutz.
Da aber nur noch etwa die Hälfte der Betriebe tarifgebunden ist, könnten auch Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben dank einer Wochenarbeitszeit flexibler arbeiten, also etwa an einem Tag sechs Stunden, am nächsten zehn Stunden. Warum wehren Sie sich dagegen?
Vassiliadis: Weil Arbeitgeber in Firmen ohne Tarifschutz oder ohne funktionierende Mitbestimmung ihre Beschäftigten mit einem neuen Wochenarbeitszeitrecht noch leichter unter Druck setzen könnten, mehr zu arbeiten. Schon heute werden die Gesetze oft stillschweigend unterlaufen. Mit einer weiteren Flexibilisierung würde das Tor noch weiter geöffnet – mit drohenden Folgen für die Gesundheit der Betroffenen.
Doch Arbeitgeber und CDU-Politiker werben für die Änderung des Arbeitszeit-Rechts, auch mit dem Argument, Beschäftigte könnten so Familie und Beruf besser vereinbaren, wenn sie einen Tag mehr und einen Tag weniger arbeiten dürfen.
Vassiliadis: Nochmal: Das ist doch heute schon gang und gäbe, wo die Arbeitsabläufe es hergeben und Tarifverträge es sauber regeln. Mir gefällt die Botschaft nicht, die hier transportiert wird, da sie die Realität nicht umfassend darstellt. Das habe ich auch bereits im Wahlkampf mit Herrn Linnemann, dem Generalsekretär der CDU, besprochen.
Was haben Sie der rechten Hand von Friedrich Merz gesagt?
Vassiliadis: Ich habe ihn gefragt: Was wollen Sie meinen Leuten damit sagen? Dass sie auf der Couch liegen? Das ist doch nicht das Leitbild deutscher Arbeitnehmer. Das sind doch weit überwiegend hoch engagierte Leute, die Spaß an ihrem Job haben und die den Erfolg der deutschen Exportindustrie begründen.
Müssen Linnemann & Co. umdenken, was die Arbeitsmoral von Beschäftigten betrifft?
Vassiliadis: Wir haben ganz andere Probleme in Deutschland: Seit mehr als zehn Jahren wächst der Anteil der Menschen ohne Berufsausbildung. Inzwischen sind es 13 Prozent der 20- bis 34-Jährigen. Darum sollte sich die Politik kümmern. Und gerade mittelständische Unternehmen müssen angehalten werden, ihre Beschäftigten regelmäßig weiter zu qualifizieren. Dort gilt zu oft die Devise: Wenn viel zu tun ist, gibt es keine Zeit für Qualifizierung. Und wenn wenig zu tun ist, fehlt das Geld dafür. Wir müssen den Fachkräftemangel aktiver bekämpfen. Unsere derzeitige Wirtschaftskrise hat mit der Leistungsbereitschaft der Beschäftigten nichts zu tun. Wir sind in Deutschland nicht alle träge und faul geworden. Im Gegenteil.
Doch die deutsche Wirtschaft steckt im dritten Jahr in der Krise. Können Union und SPD eine weitere Deindustrialisierung Deutschlands verhindern?
Vassiliadis: Beide politischen Blöcke sind sich einig, dass sie sich um Wirtschaft und Industrie kümmern müssen. Das ist positiv. Den Verantwortlichen ist klar: Wenn wir nichts tun, verlieren wir einen nennenswerten Anteil unserer Industrie in Deutschland. Besonders positiv finde ich, dass die Koalition Deutschland zum weltweit innovativsten Chemie-, Pharma- und Biotechnologiestandort machen und gemeinsam mit uns und anderen eine Chemieagenda 2045 erarbeiten will. Das ist überfällig.
Warum passierte lange zu wenig?
Vassiliadis: Lange haderte Deutschland mit der Chemieindustrie, obwohl der Wirtschaftszweig ein wesentliches Standbein unserer Wirtschaft und vor allem systemrelevant ist. Wenn die künftige Regierung sich wirklich durchringt, die Kosten für Energie und Klimaschutz für die Industrie zu verringern, kann das helfen, die Verlagerungs- und Stilllegungswelle in der Branche endlich zum Abebben zu bringen.
Die Lage ist offensichtlich ernst. Sie haben gesagt, in der deutschen Grundstoffindustrie, also gerade in der Chemie-Branche, brenne die Hütte lichterloh.
Vassiliadis: Von Verlagerungen oder Schließungen von Anlagen sind bereits rund 25.000 Beschäftigte in der Chemieindustrie betroffen. Wenn einzelne Anlagen in großen Chemiebetrieben geschlossen werden, weil etwa die Energiekosten zu hoch sind, wird das nicht groß publik. Diesen Abschied auf Raten müssen wir schleunigst stoppen.
Spitzt sich die Lage weiter zu?
Vassiliadis: Nicht die gesamte Chemiebranche ist gleichermaßen betroffen. Im Feuer stehen etwa 20 bis 25 Prozent der Kapazitäten – vor allem der ersten, besonders energieintensiven Produktionsstufe. Zu den rund 25.000 Arbeitsplätzen, die schon weggefallen sind oder noch abgebaut werden, könnten weitere etwa 25.000 hinzukommen, wenn wir nicht endlich gegensteuern – etwa mit der Senkung der Energiekosten oder dem Abbau unsinniger Vorschriften.
Wie sehr würde der Wegfall solcher Industrieanlagen den Standort Deutschland schädigen?
Vassiliadis: Erheblich, denn in diesen Anlagen werden enorme Mengen an Grundstoffen erzeugt. Sollten die Anlagen hierzulande geschlossen werden, müsste man erst einmal eine Infrastruktur schaffen, damit die Stoffe aus dem Ausland etwa zu BASF nach Ludwigshafen kommen. Wenn Sie dorthin beispielsweise tonnenweise Ammoniak an der Loreley vorbei auf der engsten Stelle des Mittelrheins transportieren müssen, wird das auch niemand wirklich wollen.
Was droht der Chemiebranche am Ende?
Vassiliadis: Wenn wir etwa Ammoniak nicht mehr in Deutschland produzieren und es zugleich unterlassen, die Infrastruktur für Lieferungen aus dem Ausland aufzubauen, fallen noch mehr Stufen der chemischen Industrie in Deutschland weg, und in der Folge weitere Produktionsstufen in der Industrie insgesamt. Übrigens: Ohne eine leistungsfähige Chemieindustrie kann Deutschland die Rüstungsindustrie nicht erfolgreich ausbauen. Munition etwa besteht im Wesentlichen aus Stahl und Chemie. Und auch die Energiewende funktioniert nicht ohne Chemie. So stecken auch in Windkraftanlagen besonders widerstandsfähige Kunststoffe. Kurzum: Wir brauchen Chemie nicht nur für Ernährung, Gesundheit und Mobilität, sondern auch, um wehrhafter und nachhaltiger zu werden.
Zur Person: Michael Vassiliadis, 61, stammt aus Essen. Nach dem Abschluss der Realschule absolvierte er bei der Bayer AG eine Ausbildung zum Chemielaboranten und übte nach Ende der Lehre bis 1986 diesen Beruf aus. Von 2004 bis Oktober 2009 war der Arbeitnehmervertreter Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes der IG BCE. Seit Oktober 2009 ist Vassiliadis Vorsitzender der IG BCE. Das SPD-Mitglied ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der RAG AG sowie Mitglied der Aufsichtsräte von BASF, Henkel und Steag.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden