
Finanzexpertin: "Geldpolitik ist wie ein Super-Tanker"

Sonja Marten, Leiterin Devisen und Geldpolitik bei der DZ Bank, erklärt, warum die Europäische Zentralbank vor schwierigen Entscheidungen steht. Und warum die Inflation nicht so schnell verschwindet.

Im Juni lag die Teuerungsrate für Deutschland bei 6,4 Prozent. Die Zinswende der Europäischen Zentralbank ist ein Jahr her. Wie bewerten Sie deren Kampf gegen die Inflation bisher?
Sonja Marten: Die EZB hat zunächst zögerlich agiert, das ist häufig kritisiert worden. Hinterher ist man aber immer schlauer. Tatsache ist, die EZB hatte darauf gesetzt, dass die Inflation im Wesentlichen von Corona und den diversen Folgen der Pandemie getrieben war. Und diese Inflation hätte Anfang letzten Jahres nachlassen sollen. Dann kam der Krieg, den keiner vorhergesehen hat, es folgte die Energiekrise. Insofern hat die Bank vielleicht zu spät reagiert, aber sie hatte ihre Gründe dafür.
Wie bewerten Sie die Geldpolitik ab dann?
Marten: Als sich der EZB-Rat entschieden hatte, an der Zinsschraube zu drehen, waren sie ungewöhnlich vereint. Die Meinungsunterschiede zwischen den Tauben und Falken …
… den Vertretern einer lockereren und einer restriktiveren Geldpolitik …
Marten: … werden durchaus oft in der Öffentlichkeit ausgetragen. Aber ab dem Moment, wo sie loslegten, waren sie sehr einig in ihrer Kommunikation. Ab da haben sie es durchaus erfolgreich gemacht. Jetzt allerdings wird es wieder schwierig. Wir sind an einem Kipppunkt angekommen. Tauben und Falken formieren sich neu.
Acht Mal hat die EZB an der Zinsschraube gedreht, der Leitzins steht noch bei vier Prozent. Die neunte Drehung gilt als sicher. Reicht das? Oder sollte lieber noch ein zehntes Mal gedreht werden? 6,4 Prozent Inflation sind ja nicht gerade nichts …
Marten: Sollte die EZB am Donnerstag nicht noch mal erhöhen, wäre das ein Wunder. Natürlich sind 6,4 Prozent noch viel zu hoch, zugleich hat die Inflation aber deutlich nachgelassen. Spannend ist in der Tat, ob nach der neunten Drehung Schluss ist und wie sie kommunizieren werden. Vermutlich werden die Notenbanker ihr Statement sehr restriktiv, also falkenhaft, formulieren. Denn wenn sie zu früh Entwarnung signalisieren, riskieren sie – und davor haben sie große Angst - ein Wiederaufflammen von Inflationserwartungen. Aber nach der Sitzung am Donnerstag kommt die Sommerpause, die dann folgende Sitzung ist erst im September. Bis dahin erscheinen noch einige Inflationszahlen und Wirtschaftsdaten. Wir bei der DZ-Bank erwarten, dass es im September keine weitere Zinserhöhung geben wird.
Und wäre das richtig? Denn Deutschland zum Beispiel hat im europäischen Vergleich sehr schwache Wachstumszahlen.
Marten: Das Problem ist die Verzögerung zwischen einer Zinserhöhung und ihrer Auswirkung. Dazwischen vergeht wahnsinnig viel Zeit – optimistisch betrachtet sechs Monate, wahrscheinlich ist aber eher ein Jahr oder länger, denn der Transmissionsmechanismus zwischen der Geldpolitik und der Wirtschaft funktioniert langsamer als früher, weil sich die Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat. Es gibt weniger Industrie und dafür mehr Dienstleistungen. Die wiederum sind weniger investitionsabhängig. Im September wird die Inflation also immer noch hoch sein. Aber irgendwann muss man dann einfach abwarten, weil die Folgen erst deutlich später einsetzen und sich die erhöhten Zinsen erst durch das ganze System fräsen müssen.
Haben es die USA, hat die Federal Reserve Bank, es besser gemacht? Dort lag die Inflationsrate im Juni bei nur noch drei Prozent.
Marten: Die Inflation in Amerika ist eine andere Inflation als die, die wir in Europa haben. Nur ein Beispiel: Hier war die Energieversorgungslage eine ganz andere. Auch funktioniert der amerikanische Arbeitsmarkt ganz anders, weshalb das Risiko von Lohnpreisspiralen viel höher ist. Die Ausgangslagen waren sehr unterschiedlich, insofern ist ein Vergleich schwierig.
Was erwarten Sie für 2024?
Marten: Wir müssen aufpassen, dass wir im kommenden Jahr nicht hart landen. Das ist die Herausforderung für die nächste EZB-Entscheidung im September. Geldpolitik ist wie ein Super-Tanker: Es dauert ein bisschen, bis er sich dreht. Wenn er dann aber dreht und vielleicht überdreht, ist es schwierig ihn wieder zurückzuholen. Wir erwarten für Ende des Jahres in der Eurozone eine Inflation von vielleicht vier Prozent. Für Ende 2024 prognostizieren wir immer noch etwas über zwei Prozent.
Wo sehen Sie wirtschaftlich das größte Risiko, wenn die EZB weiter einen restriktiven Kurs fährt?
Marten: Das größte Problem ist der Immobilien- und Häusermarkt und alles, was damit zusammenhängt. Zwar fallen die Preise für Häuser und Immobilien, zugleich sind wegen der Zinsen die Kosten sehr hoch. Die Zahl für Neubauprojekte ist sehr stark eingebrochen. Dazu kommt die Diskussion um das Gebäudeenergiegesetz und was daraus folgt. Im Bausektor sieht man auch am deutlichsten die Probleme für die Verbraucher und was daraus folgt. Denn wer jetzt höhere Bau- oder Hypotheken-Zinsen, wer höhere Mieten zahlen muss, hat am Ende des Monates natürlich deutlich weniger übrig. Dementsprechend wird weniger konsumiert. Und das hat wiederum Folgen für die Investitionen der Unternehmen, die ohnehin wieder teurer geworden sind. Geld kostet wieder Geld. Das war lange nicht so. Man erkennt hier gut, warum wir dieses schwache Wachstum haben. Deutschland ist Schlusslicht im Euroraum. Und dort haben wir eine Prognose für 2023 von 0,3 Prozent. Das ist nicht viel.
Noch mal zurück zu den Verbrauchern: Wenn der Leitzins bei vier und dann bei 4,25 Prozent steht, wann bemerken Bankkunden spürbar, dass auch die Sparzinsen, sei es für die Tagesgeld-Konten oder für das Festgeld, steigen?
Marten: Ich kann verstehen, dass Bankkunden das Gefühl haben, dass sie einerseits immer mehr zahlen müssen, weil vieles teurer wird, andererseits aber da, wo sie etwas bekommen könnten, nicht genug nachkommt. Der Bankensektor befindet sich aber noch in einer Anpassungsphase, weil die Zinswende sehr schnell gekommen ist. Zudem wurden Kunden über viele Jahre auch vor Negativzinsen geschützt.
Russland hat das Export-Abkommen für ukrainisches Getreide aufgekündigt. Was für Folgen wird das für die Inflation bei Lebensmittelpreisen haben?
Marten: Das ist ein Faktor, der zu steigenden Preisen an einer Stelle im System führt. Für Zentralbanken wäre ein neuer Inflationstreiber das Worst-Case-Szenario. Denn normalerweise ist eine Inflation von der Nachfrage getrieben: Die Wirtschaft läuft solide, die Löhne steigen, alles wird teurer und dann reguliert man über den Leitzins. Das kann man beeinflussen. Aber wenn durch äußere Faktoren – wie beim Getreide oder natürlich vor allem der Energie – das Angebot verknappt wird, ist das eine Art Endgegner. Den Preis für immer knapper werdendes Getreide kann man über Geldpolitik nicht regulieren. Wenn der die Inflation weiter anheizt, müssten die Zinsen theoretisch weiter erhöht werden, aber was brächte das?
Es ist leider kompliziert.
Marten: Ja. Während Corona waren wir alle Virologen. Wenn Fußball-WM ist, sind wir alle Bundestrainer. Und zu Inflationszeiten werden wir alle zu Geldpolitikern. Aber die Zusammenhänge sind schwierig und zugleich sehen die Leute nur, dass alles teurer wird. Wenn die Arbeitgeber dann nicht bereit sind, mehr zu zahlen, wird die Lage wirtschaftlich immer schwieriger. Wenn wir nach England schauen, wo die Inflation bei acht Prozent liegt, bringt das die Menschen an die Grenzen dessen, was sie noch leisten können. Ich kann den Unmut verstehen, aber wir müssen auch realistisch bleiben. Niemand hat einen Zauberstab, mit dem er die Inflation sofort verschwinden lassen kann.
Zur Person: Sonja Marten ist Leiterin Research Devisen und Geldpolitik bei der DZ Bank.
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