i
Foto: Jens Jeske / www.jens-jeske.de
Foto: Jens Jeske / www.jens-jeske.de

„Je mehr Gas wir heute ein sparen, desto voller werden die Speicher. Das hilft uns im Winter“, sagt Energieökonomin Claudia Kemfert.

Interview
20.07.2022

Claudia Kemfert: „Wir haben eine Chance, ohne russisches Gas über den Winter zu kommen“

Von Michael Kerler

Auch wenn Nord Stream 1 nicht mehr in Betrieb geht, sieht Energie-Ökonomin Claudia Kemfert Wege, die Energieversorgung zu sichern. Wofür sie plädiert und wo dringend gehandelt werden müsste.

Was passiert, wenn Nord Stream 1 am Donnerstag nicht wieder in Betrieb geht? Wie ernst ist die Gaskrise?

Prof. Claudia Kemfert: Die Lage ist ernst, aber nicht unbeherrschbar. Russland lieferte bis vor kurzem knapp 40 Prozent unseres Gases. Wenn dies komplett wegfällt, müssen wir vier Dinge schnellstmöglich tun: erstens A wie Ausweichen. Also Gas aus anderen Ländern beziehen, und das im europäischen Verbund. Zwar sind die Kapazitäten aus Norwegen und den Niederlanden weitestgehend ausgereizt, aber es gibt noch weitere Möglichkeiten. Insbesondere über Flüssiggaslieferungen vom Weltmarkt über die Terminals in Belgien, Holland oder Frankreich. Vermutlich kann auch Dänemark Anfang kommenden Jahres wieder etwas mehr liefern. Zweitens: Die Gasspeicher auffüllen, und zwar so schnell wie möglich. Je voller sie bis zum Winter sind, desto besser. Dafür müssen wir – drittens – sparen, sparen, sparen, und zwar jetzt schon! Industrieauktionen für mehr Sparen samt Entschädigungen sind der richtige Weg, genauso wie Prämien für Haushalte, die Energie sparen. Und viertens müssen wir die erneuerbaren Energien dringend und vorrangig ausbauen und heutige Kapazitäten auf das Maximum erweitern. Das ist die ASSA-Formel: ausweichen, speichern, sparen, ausbauen.

Haben wir eine Chance, ohne russisches Gas über den Winter zu kommen? Die Speicher sind ja nicht gerade voll …

Kemfert: Wir haben eine Chance, ohne russisches Gas über den Winter zu kommen. Sie liegt in der genannten ASSA-Formel. Am wichtigsten ist heute das Gassparen – und zwar nicht nur, indem wir im Sommer nicht heizen. Je mehr Gas wir heute einsparen, desto voller werden die Speicher. Das hilft uns im Winter. Wir müssen und können den Anteil von Gas zur Stromerzeugung möglichst weit runterfahren und stattdessen mehr erneuerbare Energien nutzen. Allerdings produziert die Hälfte der Gaskraftwerke neben Strom auch Wärme. Theoretisch könnten wir diese auch durch erneuerbare Energien erzeugen, zum Beispiel durch nachhaltige Biomasse oder Solarthermie. Aber da wir die erneuerbaren Energien leider zu lange ausgebremst haben, müssen wir jetzt temporär Kohle einsetzen.

Angenommen, Gas muss im Ernstfall rationiert werden: Wer könnte Ihrer Meinung nach am ehesten auf Gas verzichten? Wer keinesfalls?

Lesen Sie dazu auch

Kemfert: Nochmals, dieser schlimmste Fall ließe sich vermeiden, wenn wir es ernsthaft wollten. Für den Ernstfall gibt es klare Prioritäten und geschützte Verbrauchergruppen, etwa Privathaushalte, soziale Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser sowie Gaskraftwerke, die ja der Wärmeversorgung von Haushalten dienen. Nicht nur aus gesellschaftlichen, ethischen, sondern vor allen Dingen aus technischen Gründen sollte man an dieser Reihenfolge nicht rütteln. Die aktuelle Diskussion ist teils politisch getriebene Panikmache, bei der einzelne Gruppen gegeneinander aufgehetzt werden. Teils ist sie interessengeleitet, weil manche Unternehmen auf staatliche Förderung hoffen. Ich verstehe die Sorgen der Industrie, sie sind teilweise durchaus berechtigt. Wenn Betriebe systemrelevant sind, werden sie im Falle des Falles sicherlich prioritär behandelt. Ich würde mir aber wünschen, dass die Unternehmen, statt schamlos Forderungen ob der Prioritäten aufzustellen, lieber Potenziale zum Energiesparen aufzeigen und selbst aktiv den Umstieg zu alternativen, insbesondere erneuerbaren Energien beginnen. Denn wir sitzen alle in einem Boot, und müssen sparen, wo es nur geht. Viele Kommunen erarbeiten derzeit schon Gas-Einsparpläne, indem beispielsweise in öffentlichen Gebäuden oder Einrichtungen die Energiezufuhr reduziert wird. Jeder muss zur Lösung beitragen. Ohne Ausnahme.

Können sich Betriebe wirklich schnell auf Abläufe ohne Gas umstellen? Teilweise fehlen ja Handwerker, um Solaranlagen zu montieren.

Kemfert: Es gibt überall enorme Effizienz-Potenziale, wenn die Betriebe mal die Augen aufmachen, indem sie beispielsweise Energiemanagementsysteme nutzen, indem sie Abwärme, die derzeit meist irgendwo verpufft, im System nutzen und indem sie auf erneuerbare Energien umstellen, etwa Solarenergie und Solarthermie samt großindustrieller Wärmepumpen. Wer damit schon vor Jahren angefangen hat, ist jetzt im Vorteil. Die anderen müssen sich jetzt ins Zeug legen. Die Potenziale sind riesig, und wurden nicht benutzt – aufgrund des vermeintlich billigen Erdgases. Die Zeit der Verschwendung ist jetzt vorbei. Ich weiß, es fehlen dafür Fachkräfte. Deswegen muss die Bundesregierung endlich ein konzertiertes Fachkräfte-Booster-Programm starten. Worauf warten die noch?

Wo liegen unsere Alternativen zum Erdgas? In Flüssiggas, Biogas oder der heimischen Förderung?

Kemfert: Die beste Alternative zum teuren Gasverbrauch liegt darin, weniger Gas zu verbrauchen, zu sparen. Was ich nicht verbrauche, muss ich nicht besorgen und bezahlen. Eine Rolle kann nachhaltiges Biogas spielen. Nachhaltige Biomasse-Anlagen könnten schon heute besser genutzt werden. Oftmals geht die Abwärme existierender Anlagen verloren. Dieses Potenzial ließe ich schnell heben. Die Zukunft liegt in erneuerbaren Energien insgesamt. Fossiles Erdgas ist klimaschädlich, das gilt insbesondere für Flüssiggas, also LNG. Das kann somit nur für eine sehr kurze Übergangszeit, also für drei bis vier Jahre, eine Alternative sein. Eine Investition in feste Flüssiggasterminals ist deswegen unsinnig. Übergangsweise genügen schwimmende Terminals. Die heimische Förderung von Erdgas ist weitestgehend ausgereizt. Fracking ist sehr risikoreich für Umwelt und Menschen und wurde deswegen zu Recht 2012 verboten. Es gibt keinen Grund, heute daran zu rütteln.

Bayerns Regierung will man als Ersatz für Gaskraftwerke die AKWs weiterlaufen lassen, die Ampel setzt bisher auf die Kohle. Was würden Sie bevorzugen?

Kemfert: Gut ist weder Kohle noch Atom, denn am besten wären die erneuerbaren Energien. Bayern hat leider die Windenergie ausgebremst und steht nun vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Atomkraftwerke zu verlängern, ist nicht mal eben gemacht. Sie sind keine Lampen, die man einfach an- und ausknipst. Zur Verlängerung müsste das Atomgesetz geändert werden. Die Betriebsgenehmigungen sind erloschen, zudem stehen aufwendige sicherheitstechnische Prüfungen aus. Das allein kostet Zeit und Geld. Dazu müssen Brennstoffe erworben werden. Auch deren sicherheitstechnische Prüfung dauert. Zudem fehlt ausreichendes Personal. Und vor allem stehen Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis. Atomkraftwerke produzieren nur Strom, und zwar nur sechs Prozent der Gesamtstrommenge. Ja, auch Gaskraftwerke produzieren Strom, aber dazu auch Wärme. Dabei nützen uns Atomkraftwerke gar nichts. Kohle-Kraftwerke dagegen können beides, Strom und Wärme liefen. Ihre Emissionen sind über den europäischen Emissionshandel gedeckelt. Wenn sie nur temporär genutzt werden, steigen die Emissionen zwar kurzfristig an, aber die Klimaziele können trotzdem erfüllt werden. Die Atomdebatte ist dagegen eine Geisterdebatte.

i
Foto: Jens Büttner, dpa
Foto: Jens Büttner, dpa

Die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1, durch die seit 2011 russisches Erdgas nach Deutschland fließt, ist wegen Wartungsarbeiten für etwa zehn Tage abgeschaltet.

Müsste Europa jetzt koordiniert vorgehen und den Gaseinkauf europäisieren?

Kemfert: Unbedingt! Europas Gasversorgung funktioniert nur zusammen, wir müssen solidarisch die Gasver- und -einkäufe abstimmen, und auch für eine solidarische Verteilung sorgen. Nicht umsonst haben wir schon vor Jahren die Europäische Energie-Union gegründet, um uns in Mangelzeiten wechselseitig aushelfen zu können.

Dem Eindruck nach spielt Putin rund um die Pipeline-Wartung Katz und Maus mit den Europäern. Wann kann man mutig sein und russisches Gas boykottieren?

Kemfert: Putin kann nur deshalb Katz und Maus mit uns spielen, weil wir uns politisch wahnsinnig erpressbar gemacht haben. Wir hätten schon im Februar mutig auf russisches Gas verzichten können. Natürlich hätte das erhebliche Anstrengungen nach sich gezogen, was den Gasbezug, die Verteilung und auch die Verbrauchsdrosselung angeht. Die Probleme im Februar wären nicht anders gewesen als jetzt. Der Unterschied: Die Motivation der Bevölkerung war größer und der Effekt auf Putin wäre enorm gewesen. Stattdessen haben wir ihm seit Kriegsbeginn 93 Milliarden Euro in seine Kriegskasse gespült – und warten seitdem ängstlich darauf, dass Putin selber den Gashahn abdreht. Wenn jetzt der Zeitpunkt kommt, sind wir zwar etwas besser vorbereitet, aber immer noch abhängig und erpressbar. Ein kalter Entzug ist hart, aber wäre machbar. Derzeit suchen wir leider immer noch krampfhaft nach neuen Dealern, die uns aber alle in neue fossile Abhängigkeiten führen wollen. Deswegen dürfen Kohle, katarisches Gas und LNG nur ein vorübergehendes Methadonprogramm sein, um dauerhaft mit erneuerbaren Energien clean zu werden.

Wer sind unsere Energiepartner der Zukunft? Katar oder Saudi-Arabien haben ja auch nicht den besten Ruf.

Kemfert: Eine sehr gute Frage, denn sie lenkt den Blick darauf, wie sehr fossile Energien unser Denken bestimmen. Diese Zeit ist hoffentlich bald vorbei. Nationen oder Konzerne als Energie-Partner brauchen wir hauptsächlich noch beim nachhaltigen, grünen Wasserstoff. Hier müssen wir sicherstellen, dass die Anbieter dafür Sorge tragen, dass der Wasserstoff wirklich nachhaltig und sozialethisch gerecht hergestellt wurde. Aber alles andere, vor allem Wind- und Sonnenenergie ist dezentral, auch in Bürgerhand. Dann führt die Energiewende dazu, dass wir selbst die Energie-Partner der Zukunft sind, wir Bürgerinnen und Bürger. Wenn das im Bewusstsein der Deutschen angekommen ist, werden sie verstehen, wieso erneuerbare Energien tatsächlich Freiheitsenergien sind. Sie machen uns unabhängig von Autokraten und Diktatoren – egal, wo auf der Welt.

Gas ist sehr teuer geworden. Wie würden Sie die hohen Gaskosten fair verteilen?

Kemfert: Vor allem muss Menschen mit niedrigem Einkommen zielgerichtet geholfen werden. Sie sind am meisten von Preissteigerungen betroffen. Deswegen müssen wir Sorge tragen, dass sie sich das Heizen im Winter überhaupt noch leisten können. Zudem sollten wir mehr energetische Sanierungen fördern. Die beste Kostenersparnis gelingt durch Sparen und den Umstieg hin zu erneuerbaren Energien.

Zur Person: Claudia Kemfert, 53, leitet seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg.

Facebook Whatsapp Twitter Mail