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Interview
30.09.2022

Ist Europa erwacht, Herr Sloterdijk?

Philosoph Peter Sloterdijk spricht im Interview über die Zeitenwende, die Grenzen von Repräsentation und kalte Öfen..
Foto: Henning Kaiser, dpa (Archivbild)

Exklusiv Die Europäer sind gefordert wie lange nicht. Ist sich die EU ihrer selbst genügend bewusst? Ein Gespräch mit dem Philosophen – auch über die Rolle der Opposition.

Herr Sloterdijk, in Ihrem 1994 veröffentlichten Essay „Falls Europa erwacht“ schreiben Sie: „Europas tiefster Gedanke ist, dass man der Verachtung widerstehen muss.“ Was heißt das für die Auseinandersetzung mit Putin, der nicht nur die Ukraine überfallen hat, sondern auch Europa zerstören will?

Peter Sloterdijk: Verachtung ist ein gefährlicher, weil zweischneidiger Affekt. Unser Lehrmeister in diesen Angelegenheiten ist Nietzsche, der sich selbst als einen großen Verächter bezeichnet hat. Die Verachtung ist eine heftige Regung, wie Ekel und Scham – ein Gefühl, das durch den Eindruck entsteht, dass man etwas weit unter sich hat. Auf das Verächtliche schaut man herab. Bei Platon wird diese Betrachtungsweise quasi anthropologisch erklärt: Der Mensch ist wie eine Polis zusammengesetzt aus mehreren Teilen. Von diesen ist einer so positioniert, dass er auf den anderen herunterschauen kann. Das soll heißen, in der Seele gibt es, wie in der Stadt, eine noble Partie und eine gemeine, eine plebejische Zone, die quantitativ bei weitem überwiegt. Der kleine vornehme Teil soll versuchen, den großen vulgären in Schach zu halten. Das könnte einen ersten Hinweis auf eine psychologische Herleitung der Verachtung liefern.

Was charakterisiert die Verachtung noch?

Sloterdijk: Sie ist ein gefährlicher Affekt. Der Verdacht liegt nahe, dass sich in ihm ein projektiver Anteil verbirgt. Was man an sich selbst am meisten verwirft, sieht man an den anderen deutlicher. Um legitim auf andere herabschauen zu dürfen, müsste man, ohne zu schwindeln, auf der Höhe einer verdienten Selbstachtung stehen, nicht narzisstisch, sondern aufgrund realer Meriten. Das führt zu der Forderung, dass der überlegene Teil nicht nur in seiner Einbildung überlegen ist. Er sollte wirklich Leistungen vorweisen, die ihn dazu berechtigen, anderen den Respekt zu verweigern.

Dürfen Europäer Putin verachten?

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Sloterdijk: Sie sollten es können. Hier kommt die zurzeit überall viel bemühte Redeweise von den „europäischen Werten“ ins Spiel. Wenn die damit gemeinte Wertsphäre wirklich gelten soll und die Identifikation mit ihren Inhalten nicht nur Maskerade ist, dann ist Verachtung ein gerechtfertigtes Gefühl, sobald man mit ansieht, wie diese Werte von anderen ignoriert werden. Putins Agieren und das seiner verlogenen Handlanger wie Lawrow hat Verachtung verdient. Für Europa heißt das, um zu sein, was es sein möchte, muss es in Fragen der Menschenrechte den Kurs halten.

Das scheint schwer …

Sloterdijk: Ein Faktor von Selbstverrat kommt bei universalistischen Engagements fast unvermeidlich ins Spiel, denn universalistisch formulierte Werte erlauben in der Praxis nur partikuläre Anwendungen. Wir erleben das seit einer Weile am Beispiel des Asylrechts sehr drastisch. Die lapidare Formulierung des Grundgesetzes besagt: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“. In Zeiten starker Fluchtbewegungen aus Kriegsgegenden zeigt sich, dass die Zusage nicht vollständig einzuhalten ist. An dieser Stelle attackieren uns ja gern die bösen Zungen aus Putins Retorte. Sie sehen es als erwiesen an, dass wir es sind, die verächtlich und doppelzüngig wären. Wir verfingen uns in Selbstwidersprüchen und stünden kurz vor dem verdienten Zerfall. Solchen Stimmen darf man mit Ruhe begegnen. Wenn ausgerechnet die Chinesen vor der UN Klage führen, in Island würden die Menschenrechte mit Füßen getreten, sollte man nicht die Fassung verlieren.

Ist Europa am 24. Februar denn endgültig erwacht? Ist es aus der „Absenz-Phase“ herausgetreten? Was Sie vor 28 Jahren diagnostizierten, liest sich sehr auf der Höhe der Zeit.

Sloterdijk: Die Bemerkung von damals erinnerte daran, dass die Gründung Europas ein Top-Down-Projekt war, das von einigen Staatsmännern jener Zeit ausgebrütet wurde. Das Europa der Sechs von 1957 war eine kleine pragmatische, zugleich sehr weit zielende Konstruktion, doch klug angelegt. Sie brachte von Anfang an drei Große und drei Kleine zusammen.

Frankreich, Italien, Deutschland an einem Pol, Belgien, Luxemburg und die Niederlande am anderen.

Sloterdijk: Diese Komposition macht bis heute die Dynamik des europäischen Projekts aus. Den populationsmäßigen Schwergewichten, zu denen inzwischen – neben Spanien mit 47 Millionen Einwohnern – auch Polen mit 37 hinzugekommen ist, stehen circa zwanzig kleinere Mitglieder gegenüber. Europa bildete von vornherein ein abenteuerlich kompliziertes Parallelogramm der Kräfte. Wenn es nicht starke Vorteile für alle erbracht hätte, wäre jede Prophezeiung des Zerfalls plausibler gewesen als die Wette aufs Gelingen. Der Ausdruck „Erwachen“ ist in diesem Zusammenhang am Platz. Die vage große Konstruktion ist in der Seele der Teilnehmer an der Basis nicht einfach zu verankern. Ohne Weckrufe, anders gesagt: Ohne exogenen Stress, also Identitätsbildung unter äußerem Druck, kann das Unternehmen sich nicht so leicht im Bewusstsein der Bürger einprägen. Dies entspricht der psychopolitisch fast allgemeingültigen Erkenntnis, dass Nationen und Bündnisse von Nationen besonders dann ein Identitätsgefühl entwickeln, wenn sie einen Feind haben. Sobald man sich gegen etwas positioniert, entsteht ein stärkerer Zusammenhalt, als wenn man kein Wogegen hat. So gesehen hat Putin den Europäern am 24. Februar ein riesiges Geschenk gemacht. Er hat sie daran erinnert, dass es manchmal darauf ankommt, Differenzen zurückzustellen und ein gemeinsames Projekt, einen gemeinsamen Kampf zu bestreiten.

Sie scheinen mit Blick auf den Winter, der kommt, und die viel beschworene europäische Solidarität recht optimistisch?

Sloterdijk: Das bin ich durchaus. Bei diesem Thema ist gerade viel mediengemachte Hysterie im Umlauf. Alle frieren schon im Voraus, und viele glauben, Europa werde im Wettbewerb um einen Platz am Ofen auseinanderfallen. Ich halte das für eine – um auf unseren Anfangsgedanken zurückzukommen – verachtenswerte Spekulation: Zwei Grad weniger im Wohnzimmer, und schon tritt die große Desolidarisierung ein? Dafür ist der Ausdruck „Verachtung“ die einzige zuständige Kategorie. Dass die Europäer sich vorübergehender Heizungsprobleme wegen tief uneins werden sollten, das halte ich für indiskutabel. Wenn die jeweiligen nationalen Industrien nicht optimal funktionieren, wird man einen innereuropäischen Beistandspakt entwickeln. Dafür haben wir Außen-, Wirtschafts- und Finanzminister. Und da das Thema seit Monaten diskutiert wird, werden sie im Winter nicht sagen können, die kühleren Temperaturen hätten sie überrascht.

Aber dreht sich die deutsche Debatte nicht sehr im nationalen Kreis? Die Frau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, hat zuletzt in einem BBC-Interview mit Blick auf die Debatte um die steigenden Verbraucherpreise sinngemäß gesagt: Ihr zählt Pfennige, wir zählen Opfer. Geht es in der Summe bei uns doch nicht genug um das große Ganze?

Sloterdijk: Die Frage bietet eine Gelegenheit, über Medienethik zu sprechen, und zwar im strengen Ton. Die Hysterie in Bezug auf die Wintererwartungen verrät eine mutwillige Fehlfunktion der medialen Öffentlichkeit. Man kündigt für den Winter Bürgerkrieg an, um etwas zu haben, worüber man, wenn es soweit käme, ausführlich berichten möchte.

Nehmen Sie das wirklich so wahr?

Sloterdijk: Wie sonst? Es werden ständig von rechten wie von linken Politikern und ihren Medienhelfern Volksaufstände vorhergesagt. Im Medienzeitalter ist eine Vorhersage mit einer Bestellung sinnverwandt. Und warum? Weil es publizistisch süffig ist. Sollte man im kommenden Winter über tapfer fröstelnde Franzosen, Italiener und Deutsche zu berichten haben, gehen Einschaltquoten zurück, Auflagen sinken.

Sie schrieben in ihrem Essay „Falls Europa erwacht“ – Nietzsche aufgreifend – davon, dass die Europäer Urlaub vom Zwang zur großen Politik machen. Ist dieser Urlaub mit der „Zeitenwende“ vorbei? Weiter gefragt: Tut die Bundesregierung genug? Liefert sie genügend Waffen?

Sloterdijk: Dass die Ukraine auf längere Sicht von Waffenlieferungen abhängig bleibt, liegt auf der Hand. Dass die Deutschen ihren Anteil zu erbringen haben, erscheint auch völlig evident. Die Frage ist nur, was ist genug, was nicht? Kürzlich hat ein Vertreter der Ukraine geklagt, man brauche von allem das Zehnfache. Nun kommt die spröde Logik der zumutbaren Hilfeleistung ins Spiel. Auch bei der juristischen Evaluierung von unterlassenen Hilfeleistungen gilt der Grundsatz: Über das Mögliche hinaus besteht keine Pflicht zu handeln. Wo aber die Grenze des Möglichen liegt, das ist für diesmal politisch zu definieren, dabei sollte nicht jeder dem Kanzler ins Handwerk pfuschen. Er hat die Entscheidungsvollmacht, außerdem besitzt er ein Volksmandat. Umfragen sagen, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung unterstützt seine Neigung zu vorsichtigem Handeln. Den Amerikanern sind die Hände weniger gebunden. Dass die Osteuropäer sich von ihren historisch begründeten antirussischen Affekten dazu motivieren lassen, proportional mehr zu leisten als westeuropäische Größen, ist sehr begreiflich. Für Deutschland kommt zunächst alles darauf an, dass die Koalition funktionsfähig bleibt. Den Streit über Lieferungen, wird man in einer Demokratie aushalten können.

Macht die Opposition, ganz salopp gefragt, gerade einen guten Job?

Sloterdijk: Ich muss zugeben, dass mir das Agieren der Opposition im Augenblick gar nicht zusagt. Es scheint mir unproduktiv, um nicht zu sagen etwas perfid, der Regierung ihre Arbeit noch schwerer machen zu wollen, als sie ohnedies ist. Krieg, Inflation, explodierende Energiepreise, unter der Belastung von Mehrfachkrisen zu regieren, ist eine Anstrengung ohne Beispiel aus jüngerer Zeit. Die Lage ist extrem komplex, vernünftigerweise sollte sie Anlass für eine Allianz der nationalen Einheit sein, nicht für Opposition um des Opponierens willen.

Ist die EU institutionell gewappnet für das Kommende? Wo sehen sie die Defizite?

Sloterdijk: Wenn man im Vogelflug über die europäische Situation gleitet, wird man mithilfe abstrakter Übersichtsaufnahmen zu vielen guten Befunden kommen, aber sobald man das Format etwas feinkörniger wählt, sieht man jede Menge Probleme. Ein Beispiel: Wir Europäer haben bis auf Weiteres keine gemeinsame Sozialpolitik, kaum Ansätze dazu. Gemeinsame Flüchtlingspolitik, gemeinsame Energiepolitik, gemeinsame Verteidigung: drei Fragezeichen von vielen.

Die Staatsschulden sind überall ein riesiges Problem.

Sloterdijk: Wir wissen bis heute nicht, ob es nicht klüger gewesen wäre, den Griechen 2015 Urlaub vom Euro zu gewähren. Dann würden sie nicht unbemerkt Milliarden drucken und wie echtes Geld in Umlauf bringen. Zudem wäre da die enorme Konto-Überziehung bei den Italienern. Ein Jahrzehnt lang hat die exorbitante italienische Staatsschuld die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank gelähmt und den leichtfertigen Null-Zins-Kurs mitbewirkt. Jetzt schlägt die Inflation zu, und alle hätten es wissen können. Auch muss man sich mit der traditionellen Bereitschaft der Franzosen, mit sehr hoher dette publique zu leben, kritischer als bisher auseinandersetzen. Im Übrigen ist das ein Standardproblem bei unseren Nachbarn seit dem unruhigen Sommer 1789. Man hat vergessen, die Französische Revolution war letztlich eine aus dem Ruder gelaufene Gläubigerversammlung –, die Einberufung der Generalstände sollte dazu dienen, den katastrophalen Staatshaushalt der Monarchie zu sanieren. Man kann sich nicht leicht vorstellen, wie nationale Gläubigerversammlungen heute verlaufen würden.

Wohin könnten sie führen?

Sloterdijk: Dafür besitzt niemand dunkle Fantasie genug. Italien hat es mit 2,6 Billionen öffentlicher Schulden zu tun, das heißt 45,5 tausend Euro pro Kopf, Säuglinge und Greise mitgerechnet. In Frankreich ist mit 2,9 Billionen die Lage nicht besser. Man wird sich hüten, den in Haft genommenen Bürgern die Situation zu erklären.

Was kann man tun, um die Lage zu stabilisieren?

Sloterdijk: Vor allem muss man den Satz vom ausgeschlossenen Ernstfall weiter ernst nehmen. Der impliziert den Satz vom ausgeschlossenen baldigen Zahltag – besser: den Satz der Tilgung in sehr ferner Zukunft. Dies vorausgesetzt, ist die aktuelle Politik der Hilfspakete, der Ausgleichszahlungen usw., die die Bundesregierung praktiziert, wie auch die der Franzosen und Briten mit ihren Beschlüssen zur Energiepreisdeckelung, eine sinnvolle Option. Ob sie ausreicht, um die öffentliche Unzufriedenheit in Grenzen zu halten, muss man abwarten.

Man sorgt sich aber nicht nur um explodierende Energiepreise!

Sloterdijk: Gewiss. Bei einem noch höherem Vogelflug erkennt man die prekäre Gesamtlage der Demokratien insgesamt: Sie sehen sich aufgrund ihrer unvermeidlichen basalen Fehlkonstruktion durchwegs intern geschwächt: Die Fiktion einer Repräsentation des „Volks“ in Parlamenten wird in manchen Ländern fadenscheinig bis zum Selbstdementi. Gelegentlich fühlt sich die Hälfte einer Population nicht repräsentiert, in den USA ist das seit den Tagen Trumps an bürgerkriegsähnlichen Spannungen zu erkennen. Die italienische Demokratie spielt zur Stunde offen mit einem leisen Selbstmord, die französische ist intern durch national-xenophobische Regungen bedroht, auch durch den chronischen linken Surrealismus. Man könnte, wenn’s nicht vermessen klänge, sagen, die einzige repräsentative Demokratie, die halbwegs funktioniert, sei die deutsche. Indessen besitzt die einzige funktionsfähige direkte Demokratie auf der Erde, die der Schweiz, ein historisch gewachsenes Modell, an dessen Verallgemeinerung bis auf Weiteres nicht zu denken ist. Ich gestehe, ich bin ein großer Schweiz-Bewunderer, und ich hielte es für ein Debakel, würde sich die Schweiz zum Standard der umgebenden EU-Nationen herablassen. Die demokratische Welt braucht sie als die musterhafte Ausnahme von ihren gemeinsamen Übeln.

Warum?

Sloterdijk: Sehen Sie, was wir die demokratische Lebensform nennen, beschreibt ein System, in dem eine große Mehrheit der Populationen von der aktiven Teilhabe am politischen Leben entlastet ist. Das heißt – um die Urlaubsmetapher nochmals zu bemühen – die repräsentativen Demokratien haben für die meisten eine weitgehend privatistische, ziemlich urlauberische Lebensform möglich gemacht. Durch Berufspolitik, Repräsentationssystem und Dauerentertainment sind die zahlreichen Einzelnen vom Zwang zur politischen Mitarbeit entlastet. In der Schweiz sieht es anders aus. Der Privatismus ist weniger ausgeprägt, weil man ständig an die Urnen gebeten wird. Man soll durchaus über Gott und die Welt eine klare Meinung haben, ebenso über die Kanalisation am Dorfrand und eine neue Glocke für den Kirchturm. Das Ignorieren der größeren und kleineren Zusammenhänge ist in der Schweizer Atmosphäre weniger zulässig. Im deutschen modus vivendi ist der Faktor Urlaub vom großen Ganzen um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als im Appenzeller Land.

An den Modellen direkter Demokratien wird kritisiert, dass die Verantwortlichkeit zurückbleibt. Wenn alle zuständig sind, ist es am Ende keiner gewesen.

Sloterdijk: Vorsicht. Das Problem der Unverantwortlichkeit betrifft die großen Gemeinwesen insgesamt viel stärker als die kleinen. Der Grund hierfür liegt in der neueren Geschichte. Die Monarchien Europas haben den auf sie folgenden Republiken ein unlösbares Größenproblem in die Wiege gelegt. Als Italien, zum Beispiel – nach dem Risorgimento –, endlich eine durch Monarchie geeinte Nation wurde, war das Land schon definitiv zu divers, zu heterogen, zu groß, um eine glaubwürdige Demokratie sein zu können – der Süden ist bis heute fast eine Exklave geblieben. Auf der anderen Seite war die „Demokratie“ – sei es als republikanische, sei es als konstitutionell-monarchische – die einzige verfügbare Staatsform für die modernen Flächenstaaten. Im Grunde sind alle modernen Nationalstaaten zu groß für vernünftige direktdemokratische Regierungen. Also drängt sich das Repräsentationssystem auf, zu welchem fürs Erste keine glaubwürdige Alternative in Sicht ist. Eben dieses Repräsentationssystem führt oft dazu, dass sich große Teile der Bevölkerungen nicht vertreten fühlen – die Vernachlässigten liebäugeln gern mit Regressionen in populistische Diktatur. An diesem Systemfehler, dieser dunklen Materie der Demokratien, muss über kurz oder lang mit neuen Ansätzen gearbeitet werden.

Was hieße das mit Blick auf Europa?

Sloterdijk: Europa ist – wie gesagt – vom ursprünglichen Design her eine Top-Down-Konstruktion gewesen und geblieben. Das Populärwerden des Konstrukts war seit jeher eine sekundäre Sorge. Die bestehenden Systeme wurden nach und nach mit einem zweiten Stockwerk überbaut, das ergab Repräsentationen von Repräsentationen – mit der Konsequenz, dass in Brüssel und Straßburg auf den oberen Etagen nur Delegierte von Regierungen mit ihresgleichen zusammenkommen. Die Populationen bleiben fern und weit unten, fast unsichtbar. In einem pyramidalen System ist das nicht zu vermeiden. Mir scheint, an dieser Konstruktion ist aufs Ganze gesehen nicht viel zu ändern. Ob sich das europäische Parlament vitalisieren lässt? Kein Mensch weiß es. Man muss die Dinge pragmatisch so gut wie möglich handhaben. Und man muss hoffen, dass Schocks, wie wir im Moment einen erleben, die Teilnehmer hin und wieder daran erinnern, dass sie fast ausnahmslos sehr viel zu verlieren haben. Bei einer Sezession gewinnt man außer trotzigen Illusionen nichts – das ist zur Stunde sogar den Polen klar, so mürrisch sie sich geben.

Die Briten hat das nicht aufgehalten.

Sloterdijk: Die waren nie so ganz dabei – was natürlich mit ihrem ungelösten imperialen Komplex zu tun hat. Wenn man mehr als 50 Kolonien in aller Welt besaß und sich als Spitze der Zivilisation empfand, dann musste für die Briten nach 1945 jeder Tag zur Kränkung werden. Und Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Kränkung aller Kränkungen. Man sah sich mit einem Mal dem Übergewicht der kontinentalen Mitglieder gegenüber, mitsamt dem Gewimmel der Kleinen, die selbstbewusst auftreten, im Bewusstsein dessen, dass sie fast alles blockieren könnten, was ihnen nicht in den Kram passt. Die EU ist ein schwer navigierbarer Riesentanker. Das Von-Bord-Gehen entsprach in gewisser Weise dem britischen Traditionsgefühl.

Bei der Lektüre von „Falls Europa erwacht“ fiel mir auf, dass Sie eine der größten Errungenschaften, die das politische Vakuum der letzten Jahrzehnte mit sich brachte, den Frieden, nicht explizit erwähnen. Braucht Europa eine eigene Armee? Und besteht der Zivilisationsbruch dieser Zeitenwende vor allen Dingen darin, dass man sich wieder mit der Frage auseinandersetzen muss, ob man jetzt selbst auch töten könnte?

Sloterdijk: Das ist eine Frage, die nur dann auftauchen würde, wenn wir wieder auf das Prinzip der Volksarmeen zurückgreifen wollten. Wir haben uns in Europa, wie es die Amerikaner nach Vietnam vorgemacht haben, zu dem Modell der Berufsarmeen entschlossen. Folglich muss die Frage des „Tötenkönnens“ nicht an die gesamte männliche Bevölkerung, sondern an diejenigen gerichtet werden, die das von Berufs wegen können müssten – da kämen auch Soldatinnen ins Gespräch. Wir haben hierzulande Friedensverhältnisse erlebt, die bald von der dritten in die vierte Generation gehen. In der Folge ist eine ziemlich radikale Entmilitarisierung des Denkens und Empfindens eingetreten. Das Männlichkeitsbild hat sich gesellschaftsweit abgerüstet, es ist in Richtung auf hermaphroditische Werte verschoben worden. Das konnte man übrigens schon in den 60er Jahren an den Beatles beobachten, die ganz unmissverständlich eine hermaphroditische Aura verbreiteten. Der europäische Mann ist als Konsument von Kosmetika entdeckt worden.

Parfümierte Männer sind unfähig zu kämpfen und zu töten?

Sloterdijk: Das EU-Europa hat im Moment, wenn ich richtig zähle, 27 Armeen, kleine und größere. Der US-Strategietheoretiker Edward Luttwak erklärte jüngst, wären deren Budgets und Truppen unter einem Kommando vereinigt, würden sie die Nachfolge-Organisationen der stolzen Roten Armee weit in den Schatten stellen, nicht im nuklearen Bereich, aber überall sonst. Könnte man in Europa ein agiles Korps ausrüsten, klein genug, um nicht zu provozieren, effektiv genug, um einen glaubwürdigen Sicherheitseffekt zu erzielen, so wäre das klug und angemessen. Noch sprechen die Relikte des Souveränismus in den Nationen dagegen. Ansonsten glaube ich eher an die tendenzielle Entbehrlichkeit allzu großer Anstrengungen. Nur weil Russland im Augenblick in einer psychopathischen Identitätskrise steckt, dürfen die Europäer nicht in eine symmetrische Neurose geraten. In der Nato gibt es hoch professionalisierte militärische Intelligenzen. Dass sich die Bundeswehr in einem beklagenswerten Zustand befindet, das mag für bestimmte Bereiche richtig sein, doch, dass die Bundesrepublik militärisch ganz wehrlos sei, ist auch nicht wahr. Vor allem ist sie nicht mit einer präzisen Bedrohung konfrontiert. Die Vorstellung, die Russen könnten eines baldigen Tages in Polen einmarschieren, dann an den Rhein stürmen, um kurz danach in Paris zu stehen, die halte ich für eine Fantasie von Leuten, die Gaming mit politischem Denken verwechseln.

Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Nato nicht wieder hirntot wird.

Sloterdijk: Ja sicher, die Nato hat durch die Ukraine-Krise ein zweites Leben eingehaucht bekommen. Macron hat seine Hyperbel von damals stillschweigend revidiert. Alles spricht dafür, dass Putin sich mit dem Ukraine-Feldzug übernimmt. Wenn er anfängt, bei den Nordkoreanern Munition zu kaufen, ist das kein Zeichen von Stärke und langem Atem. Ich hielte es für frivol, wollte man wegen Putins plumpem Anschlags auf die Ukraine in den westlichen Ländern einen Imperativ zur neuen Hochrüstung verkünden. Die Bundeswehr braucht Nachbesserungen, darüber ist man sich einig.

Nachbesserung ist möglicherweise ein bisschen untertrieben. 100 Milliarden Sondervermögen jetzt, und dann jedes Jahr vergleichbare Summen, um die Funktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten.

Sloterdijk: Ja, ja. Alles richtig. Ein neues Bewusstsein von Bereitschaft zur Rüstung liegt in der Luft, auch hierzulande. Johnson wollte, bevor er abgewählt wurde, die britischen Nuklearwaffen um ein Drittel aufstocken. Liz Truss möchte den Anteil der Rüstungsausgaben von zwei auf drei Prozent des Nationalprodukts erhöhen. Das zeigt, auch Angehörige des schönen Geschlechts können am Tage ihres Amtsantritts militärisch posieren. Die Neigung, Posen mit Plänen gleichzusetzen, ist verbreitet.

Ich hätte Sie – mit Blick auf die Lage der EU – etwas weniger gelassen erwartet. In der Summe sagen Sie doch: Mit dem, was da ist, kann man arbeiten.

Sloterdijk: Ich wende auf Europas Zustand eine sozialpsychologisch relevante Beobachtung an, die sich fast immer bewahrheitet: Bei Befragungen sind die meisten ziemlich pessimistisch fürs Ganze, aber eher optimistisch für die Privatsphäre. Ich ziehe aus dieser Differenz die einzig mögliche Konsequenz: Alle begreifen in letzter Instanz, dass sie nicht wenig zu verlieren haben. Was sich in Bezug aufs Ganze artikuliert, ist zumeist eine Art von Luxuspessimismus. Die meisten Europäer dürften inzwischen verstanden haben, dass ein Gutteil ihrer wesentlichen Lebensvorteile nicht so sehr durch ihren Nationalstandort gewonnen werden, sondern durch die Zugehörigkeit ihrer Länder zum europäischen Projekt.

Zur Person: Der Philosoph Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Publizisten. Er ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er bis 2015 als Rektor leitete. Zuletzt erschien von ihm „Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre“ (Suhrkamp). Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf den für das Interview zentralen Essay: „Falls Europa erwacht – Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence“. 1994 erschienen, noch immer aktuell.

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