Unter Pilzsammlern ist der Grüne Knollenblätterpilz gefürchtet. Schon ein einziges Exemplar reicht, um einen Menschen zu töten. Aber der Pilz hat noch ganz andere Seiten. Möglicherweise kann sein Gift Amanitin auch heilen. Derzeit versuchen Wissenschaftler aus Heidelberg, auf seiner Basis neue Krebsmedikamente zu entwickeln, die auch schwer therapierbare Tumore bekämpfen können. Damit gehört Amanitin zusammen mit anderen Giften aus der Tier- und Pflanzenwelt zu den Naturstoffen, auf denen große Hoffnungen ruhen.
„Das hochgiftige Amanitin ist extrem potent“, sagt Professor Andreas Pahl, Leiter der Forschungsabteilung von Heidelberg Pharma. „Wir nutzen es als Zellgift.“ Um es gezielt gegen Krebs einzusetzen, wird das Amanitin an Antikörper gekuppelt, die bösartige Zellen erkennen. Diese Antikörper transportieren das Gift zu den Krebszellen, die den Stoff aufnehmen und dadurch zerstört werden. An Mäusen wurde das Mittel bereits erfolgreich getestet. „Wenn alles gut geht, kann der Stoff 2017 an den ersten Patienten getestet werden“, sagt Pahl.
Diese „Gift-Therapie“ könnte bei ganz verschiedenen Krebsarten zum Einsatz kommen. „Das Toxin ist nicht sehr spezifisch“, sagt Pahl. Zunächst sollen daraus Medikamente gegen Brust- und Prostatakrebs entwickelt werden, auch an einem Mittel gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs wird geforscht. „Großer Vorteil unseres Mittels ist, dass es sich um einen neuen Wirkstoff handelt“, erklärt der Wissenschaftler. Deshalb könnte es Patienten helfen, die an einem Krebs leiden, der resistent gegen etablierte Chemotherapien ist. Außerdem erhoffen sich die Forscher, dass das Medikament auch ruhende Tumorzellen zerstört und Patienten damit vor Rückfällen bewahrt.
Naturstoffe als Basis der Hälfte aller Medikamente
Pilze, Tiere und Pflanzen liefern eine große Palette an Naturstoffen, die für die Pharmaforschung interessant sind. „Etwa die Hälfte aller Medikamente basiert auf Naturstoffen“, sagt der Chemiker Dr. Florian Kloß vom Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut in Jena. „Die Breite der biologischen Wirkungen ist unwahrscheinlich groß.“ So liefern Bakterien, Pilze oder Pflanzen häufig Stoffe, die für die Humanmedizin, aber auch für die Landwirtschaft interessant sein können – etwa, weil sie antibiotisch wirken. „Die Natur gibt Wirkprinzipien vor, die wir zu verstehen versuchen“, erklärt Kloß.
Pilze spielen dabei aufgrund ihrer Vielfalt eine besondere Rolle. „Man schätzt, dass es weltweit 1,5 Millionen Pilzarten gibt“, sagt der Pilzexperte Professor Roland Weber von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen. „Davon ist nur ein Bruchteil erforscht.“ Jeder Pilz produziert viele verschiedene Stoffe – ein unermessliches Reservoir für die Pharmaforschung. Interessant sind Pilze Weber zufolge auch deshalb, weil sie so unterschiedliche Lebensräume haben: Sie wachsen fast überall - sei es an Holz, im Wasser, auf Pflanzen oder im Boden. Auch ihre Lebensweisen sind sehr unterschiedlich: Manche sind Parasiten, andere zersetzen abgestorbenes Material, wieder andere gehen mit Pflanzen oder Tieren Symbiosen ein. Zum Reich der Pilze gehören nämlich nicht nur Ständerpilze wie der Steinpilz, sondern auch Schimmelpilze und Hefen. Um sich besser an ihre Lebensräume anzupassen oder um sich gegen andere Organismen zu verteidigen, bilden Pilze sehr unterschiedliche Wirkstoffe.
Einer der bekanntesten ist das Penicillin, das der schottische Arzt Alexander Fleming 1928 zufällig entdeckte: Ihm war eine Staphylokokken-Kultur im Labor buchstäblich verschimmelt. Dabei bemerkte er, dass die Bakterien von dem Pilz zurückgedrängt worden waren – eine bahnbrechende Feststellung, die zum Durchbruch der Antibiotika führte.
Schimmelpilze produzieren viele weitere Stoffe, die für den Menschen teilweise extrem giftig sind und schwer krank machen können. Manche haben – wie das Penicillin –aber auch Wirkungen, die für Medikamente grundlegend sind: Zum Beispiel produziert eine Schimmelpilzart den Stoff Cyclosporin A, der die Immunabwehr des Körpers unterdrückt und nach Organtransplantationen gegeben wird. Andere Arten liefern Statine, die vor allem als Cholesterinsenker eingesetzt werden und dadurch das Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten senken sollen.
Gift als Grundlage für Medikamente
Auch der Getreidepilz Mutterkorn, dessen dunkle, längliche Fruchtkörper an Ähren wachsen, produziert ein gefährliches Gift. Bis etwa ins 20. Jahrhundert führte der Schimmelpilz immer wieder zu Massenvergiftungen. Zugleich sind seine giftigen Stoffe aber Grundlage für verschiedene Medikamente: Dazu gehören ein Migräne-Mittel und ein Medikament, das nach der Geburt zur Blutstillung eingesetzt wird.
Manchmal bekämpfen sich Pilze auch untereinander. So stellt der Kiefernzapfenrübling Strobilurin her, das für andere Pilze giftig ist. Einen ähnlichen Stoff produziert der Buchenschleimrübling. Diese Strobilurine sollten zunächst als Grundlage für ein Medikament gegen Pilzinfektionen dienen. Es stellte sich aber als vergleichsweise schwach wirksam heraus. Sehr effektiv sind Strobilurine aber im Pflanzenschutz: „Strobilurin-Fungizide gehören heute zu den Pflanzenschutzmitteln, die weltweit besonders häufig verwendet werden. Ihr Vorteil ist auch, dass sie uns nicht schaden“, sagt Dr. Anja Schüffler. Sie arbeitet am Institut für Biotechnologie und Wirkstoffforschung in Kaiserslautern, wo der Stoff in den 70er Jahren entdeckt wurde.
Heutzutage umfasst die Stammsammlung des Instituts rund 20000 Pilze: Die Mikroorganismen, darunter Hefen und Schimmelpilze, lagern gut gekühlt in Reagenzgläsern. „Wir suchen hier nach neuen Wirkstoffen aus Pilzen“, sagt Schüffler.
Auch Florian Kloß ist Naturstoffen auf der Spur, die Pilze und Bakterien liefern könnten. Am Hans-Knöll-Institut steht die Suche nach neuen Antibiotika im Vordergrund: Angesichts einer wachsenden Zahl multiresistenter Keime hoffen die Forscher bei der Analyse von Naturstoffen auf völlig neue Wirkmechanismen zu stoßen. „Etwa 75 Prozent aller Antibiotika gehen auf die Inspiration der Natur zurück“, sagt Kloß. In den meisten Fällen versuchen Wissenschaftler, das Wirkprinzip des isolierten Stoffs zu bestimmen und den Wirkstoff chemisch zu optimieren. „Wenn die Moleküle sehr kompliziert sind und bereits geeignete Eigenschaften besitzen, können sie manchmal auch unverändert den Weg in die Anwendung schaffen“, erklärt der Chemiker. Auch wenn er und seine Kollegen bereits auf vielversprechende Stoffe gestoßen sind, so warnt er vor vorschneller Euphorie: Von der Entdeckung eines neuen Wirkstoffs bis zur Markteinführung eines neuen Medikaments vergehen viele Jahre.