
Kann man das Sehen trainieren?

Im Internet versprechen zahlreiche Angebote eine Verbesserung der Sehleistung durch entsprechendes Training. Augenärzte sind solchen Methoden gegenüber allerdings skeptisch.
Wer fleißig trainiert, kann viel erreichen - einen beweglicheren Körper, einen stärkeren Rücken, ein besseres Gedächtnis. Warum nicht auch bessere Augen? Diverse Ankündigungen im Internet wecken Hoffnungen dieser Art. „Meine Altersweitsichtigkeit habe ich mir in nur zwei Wochen wegtrainiert“, zitiert ein Anbieter dort eine Kundin. „Mit dem richtigen Augentraining wieder ohne Brille sehen“, wirbt ein anderer. Angefangen von Kurz- über Weitsichtigkeit bis hin zu Nachtblindheit und trockenen Augen gibt es kaum ein Sehproblem, das sich demnach nicht zumindest verringern lässt. Allerdings gehen die Meinungen, ob solche Erfolge möglich sind, stark auseinander.
Das Angebot in dem Bereich ist sehr vielfältig und umfasst, je nachdem, verschiedene Entspannungsmethoden wie Yoga, Feldenkrais oder autogenes Training, Akupunktur, Farbtherapie, Ernährungstipps und psychologische Beratung. „Wir betrachten das Auge als Teil des Ganzen“, erklärt Belen Mercedes Mündemann, Vorsitzende des Vereins für Gesundes Sehen, in dem sich 135 Sehtrainer bzw. -therapeuten zusammengeschlossen haben. „Wir sind davon überzeugt, dass es enge Wechselwirkungen zwischen dem Auge und dem ganzen Menschen gibt.“ Damit grenzt sich ihr ganzheitlicher Ansatz von schulmedizinisch orientierten Augenärzten ab, die ein „funktionell-medizinisches“ Verständnis vom Auge haben, wie sie sagt: „Das ist eine ganz andere Sichtweise der Dinge.“
Durch konsequentes Training lasse sich unter anderem die Altersweitsichtigkeit hinauszögern und Kurzsichtigkeit verbessern. „Wer jeden Tag übt und ansonsten gesunde Augen hat, kann seine Kurzsichtigkeit nach einem halben Jahr um zwei bis drei Dioptrien verbessern“, sagt Mündemann. In ihren Kursen konzentriert sich die Heilpraktikerin für Psychotherapie auf Altersweitsichtigkeit und stressfreies Sehen. Dabei arbeitet sie mit Entspannungs- und Wahrnehmungsübungen. Auch „Augenspaziergänge“, bei denen die Warnehmungsfähigkeit in der Natur geschult werden soll, gehören dazu.
Augenärzte sehen Sehtraining oft skeptisch
Ein Vorkämpfer, auf den sich viele Sehtrainer berufen, ist der amerikanische Augenarzt William Bates (1860 - 1931). Für ihn waren Brillen nur „Krücken“, die nicht die eigentliche Ursache von Sehproblemen beseitigten. Er ging davon aus, dass Verspannungen der Augenmuskulatur die wesentliche Ursache von Sehproblemen sind und entwickelte verschiedene Entspannungsübungen für Auge und Geist, um die Störungen zu beheben. Sie sind auch heute noch Kern vieler Sehtrainings-Programme.
Augenärzte sehen die Methode meist skeptisch. „Das ist in etwa so, als wollten sie ihre Schuhgröße trainieren“, sagt etwa Dr. Georg Eckert, Sprecher des Berufsverbands der Augenärzte. „Dem steht die menschliche Anatomie entgegen.“ Kurzsichtigkeit (Myopie) beruht in der Regel darauf, dass der Augapfel zu lang ist. Bei Weitsichtigkeit verhält es sich umgekehrt. Und zur Altersweitsichtigkeit kommt es, weil die Linse im Lauf des Lebens weniger elastisch wird und sich dadurch schlechter an unterschiedliche Entfernungen anpassen kann. Auch Dr. Wolfgang Wesemann, ehemaliger Direktor der Höheren Fachschule für Augenoptik in Köln, hält es für ausgeschlossen, dass ein Training an diesen anatomischen Gegebenheiten etwas ändern könnte. Wesemann hat sich intensiv mit Sehtraining und Kurzsichtigkeit befasst und wissenschaftliche Untersuchungen dazu ausgewertet. Sie zeigten übereinstimmend, dass sich Myopie durch diverse Trainingsmethoden nicht verringern lässt.
Gehirn lernt, unscharfe Bilder zu verbessern
Ganz so eindeutig sind die Ergebnisse allerdings nicht: Tatsächlich konnten einige Teilnehmer, die ein intensives Sehtraining absolviert hatten, danach etwas schärfer sehen. An der Brechkraft ihrer Augen, die sich objektiv messen lässt, hatte sich aber nichts geändert. Wie kann das sein? „Auch bei Kurzsichtigen, die ihre Brille weglassen und das unscharfe Sehen in Kauf nehmen, zeigt sich dieser Effekt. Sie sehen nach einiger Zeit auch ohne Brille ein klein wenig schärfer“, sagt Wesemann. „Das kann man sich so erklären, dass das Gehirn lernt, unscharfe Bilder zu verbessern.“ Vergleichbar sei das in etwa mit der Bildbearbeitung im „Photoshop“. „Es ist enorm, was das Gehirn leisten kann“, betont er. Aber selbst wenn sich die Sehschärfe dadurch etwas verbessere, reiche das noch lange nicht aus, um im Alltag gut zurecht zu kommen und zum Beispiel Auto zu fahren oder gefährliche Maschinen zu bedienen.
Abgesehen davon sind die Bates’schen Übungen tatsächlich sinnvoll, um sich zu entspannen – was sich günstig auf Körper, Geist und Auge auswirkt. So ist unbestritten, dass intensives Arbeiten am Bildschirm Probleme verursachen kann: „Durch den starren Blick, den man dabei entwickelt, verringert sich die Zahl der Lidschläge. Es kann dadurch zu Austrocknungserscheinungen kommen“, sagt Wesemann. Deshalb sei es wichtig, ab und zu Pause zu machen und den Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Außerdem empfiehlt er Menschen ab etwa 50 Jahren, eine Computerbrille zu tragen, die optimal auf den Arbeitsplatz eingestellt ist. Eine Überanstrengung der Augen könne nämlich unter anderem Augen-, Kopf- und Nackenschmerzen bereiten.
Kurzsichtigkeit durch innere Anspannung verstärkt
Bei manchen Menschen sind derlei Entspannungsübungen so wirkungsvoll, dass sie tatsächlich besser sehen können – nämlich dann, wenn sie an einer „stressbedingten Pseudomyopie“ leiden, wie Wesemann erklärt. „Diese Leute stehen unter so großem inneren Druck, dass sich die Kurzsichtigkeit verstärkt.“ Die Ziliarmuskeln, an denen die Linsen angehängt sind, verkrampfen sich, so dass das Auge auf die Nähe eingestellt bleibt. „Durch Sehtraining oder Entspannungsübungen kann sich der stressbedingte Tonus vermindern“, erklärt der Experte. „Es hat dann den Anschein, als ob sich die Myopie vermindert hätte. In Wirklichkeit hat sich aber nur der Akkomodationstonus normalisiert.“
Sogar die Barmer GEK bietet ein ganzheitliches Online-Sehtraining an, das unter anderem Bates’sche Entspannungsübungen vorsieht. Das Angebot richtet sich an Menschen, die viel am Bildschirm arbeiten. „Von den Nutzern bekommen wir die Rückmeldung, dass sie sich in Bezug auf ihre Augen besser und entspannter fühlen, seitdem sie das Sehtraining nutzen“, berichtet Pressesprecher Axel Wunsch. Auch wenn man sich also die Brille nicht „wegtrainineren“ kann, so können Augenübungen offenbar doch ein sinnvoller Beitrag zu Entspannung und Wohlbefinden – und auch das spielt beim Sehen eine große Rolle.
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