Irmgard Sinning: Vom Bauernkind zur gefeierten Biochemikerin
Irmgard Sinning ist auf einem Bauernhof im Kreis Dillingen aufgewachsen. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Biochemikerinnen in Deutschland und bekommt den Leibniz-Preis.
Weißer Kittel, bunte Schlappen und eine große Schutzbrille. Die Pipette in der einen, das Röhrchen in der anderen Hand. Versteckt hinter großen Mikroskopen oder vertieft in Laborberichten. So stellt man sich die Person bei der täglichen Arbeit vor, die den wichtigsten deutschen Forscherpreis verliehen bekommt.
Irmgard Sinning sitzt an diesem Vormittag hinter ihrem XXL-Computerbildschirm, telefoniert gerade mit einem Kollegen. In blauer Jeans und braunem Blazer. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher, Ordner und Notizen. Auf einem kleinen, grauen Sideboard lehnt ein buntes, gerahmtes Plakat – einer der wenigen Farbtupfer in diesem Büro. Darauf zu sehen ist eine Frau in Popeye-Pose mit hochgekrempelten Ärmeln. Darüber steht groß der Slogan „We can do it!“.
Leipniz-Preis: Die wichtigste Forschungsauszeichnung Deutschlands
Irmgard Sinning krempelt ihre Jacke ein Stück hoch, faltet die Hände und lacht. Sie hat es geschafft. Mit 53 Jahren bekommt sie am 12. März in Berlin den Leibniz-Preis verliehen – die wichtigste Forschungsauszeichnung in Deutschland. Seit dies bekannt ist, stehen die Telefone im Haus 328 nicht mehr still, Journalisten gehen seit Wochen ein und aus, um die Preisträgerin zu interviewen.
Irmgard Sinning hat an der Universität Heidelberg seit 2000 eine Professur für Biochemie und Strukturbiologie inne und hat in ihrem Fachbereich eine Reihe grundlegender Beiträge erforscht, die zur Aufklärung der Transportmechanismen in Zellen aller Organismen dienen. Ihre jahrelange Arbeit wird nun mit dem Leibniz-Preis belohnt, der mit 2,5 Millionen Euro dotiert ist. Wer sie überhaupt dafür vorgeschlagen hat, weiß sie nicht. „Nach vielen Jahren hat es geklappt. Das zählt. Wir sind alle überglücklich.“
Geforscht wird auf Englisch und per Du
„Wir“, das ist ihr rund 25-köpfiges Team an der Uni Heidelberg. Auf fünf Stockwerken verteilt, arbeiten Menschen unterschiedlichster Nationen in den Laboren. Italiener, Spanier, Inder, Deutsche. Gesprochen wird Englisch. Und falls doch Deutsch – dann ist die Chefin mit allen per Du. Egal, welcher Altersunterschied zwischen ihr und ihren Angestellten liegt. Egal, welche Titelunterschiede es gibt. Deshalb steht vor dem Aufzug im Erdgeschoss auch nur ein kleines Schild mit der Aufschrift „FG Sinning“. FG für Forschungsgruppe.
Daneben hängen Bilder der Mitarbeiter. „Damit Besucher uns erkennen“, sagt die 53-Jährige und lacht. In der Forschung wechsle das Personal sehr oft. „Und Titel brauchen wir nicht. Das reicht bei offiziellen Terminen.“ Deshalb wird sie auch nicht Irmgard gerufen. In der Arbeit ist die Leibniz-Preisträgerin einfach Irmi. Auch ihre offizielle E-Mail-Adresse beginnt mit Irmi. Ein Kollege darf sie sogar Irmchen nennen, „aber das klingt jetzt nicht mehr so seriös, oder?“. Zu Hause ist sie „s’Mädle“.
"Irmi" ging aufs "Bona"
Zu Hause in Schwenningen im Landkreis Dillingen. „Ich wohne zwar schon seit fast 20 Jahren in Heidelberg, aber daheim ist daheim. Das wird immer so sein“, erzählt sie. Daheim im 1300-Seelen-Dorf an der Donau. Dort ist Irmgard Sinning gemeinsam mit ihren zwei älteren Brüdern auf dem elterlichen Bauernhof aufgewachsen. Dort ist sie einfach die Tochter und Schwester – die forscht.
Was, sie forscht? Das zu erklären, hat sie manchmal schon aufgegeben. „Es ist etwas kompliziert und irgendwie will es auch keiner so genau wissen“, sagt sie, „aber alle sind stolz auf mich. Denke ich.“ Stolz darauf, dass die Schwenningerin, die 1979 ihr Abitur am Dillinger St.-Bonaventura-Gymnasium gemacht hat, sich in die Liga der Spitzenwissenschaftler in Deutschland hochgearbeitet hat.
Zusammenarbeit mit Nobelpreisträger Michel
Mit ihrem Abi-Jahrgang wurde in Bayern vor 35 Jahren das Kurssystem eingeführt. Weil aber für einen musischen Kurs zu wenige Schüler Interesse hatten, entschied sie sich für Deutsch und Biochemie und schrieb eine Facharbeit über die Fotosynthese in Algen. Nach ihrem Studium der Lebensmittelchemie in München traf sie auf den späteren Nobelpreisträger Hartmut Michel, der gerade auf der Suche nach einem Wissenschaftler mit Stärken in der Analytik war. „Er wurde mein Doktorvater“, erzählt die 53-Jährige.
Sie folgte ihm nach Frankfurt, später arbeitete sie unter anderem am Biomedical Center in Schweden, bis sie schließlich 1994 nach Heidelberg kam. Mit dem Leibniz-Preis tritt Sinning in die Fußstapfen von Hartmut Michel. Auch er erhielt diese Auszeichnung 1986. Zwei Jahre später wurde seine Forschungsarbeit mit dem Nobelpreis belohnt – zusammen mit Robert Huber und Hans Deisenhofer, der übrigens auch aus dem Landkreis Dillingen stammt.
Fliegen-Forschung
Wenn Irmgard Sinning über ihre Arbeit spricht, klingt das für viele Menschen wie chinesisch – nicht viele würden die gewöhnliche Fruchtfliege wohl als Drosophila bezeichnen. Davon abgesehen, dass sich wohl kaum jemand für die Augen der kleinen Tiere interessiert. Irmi Sinning schon. Sie bezeichnet die Fruchtfliegen als ihr Steckenpferd. „Ich hatte vor vielen Jahren die Idee, dass man die Augen als eine Art Biofermenter verwenden könnte, um darin Proteine für unsere Forschung zu produzieren. Klingt verrückt, aber es funktioniert“, so Sinning.
Deshalb gibt es nun an der Uni Heidelberg im Keller von Haus 328 einen kleinen Raum mit unzähligen Röhrchen, in denen es von Fliegen nur so wimmelt – aber nur kurz. Nachdem die Fruchtfliegen mit CO2 betäubt und Proben entnommen werden, ereilt sie der schnelle Tod im Alkohol – zumindest an diesem Tag. Für die Forschung werden die Fliegen mit flüssigem Stickstoff gefroren und geschüttelt, dann verlieren sie die Köpfe. „Die Fliegenaugen sind eine gute und kostengünstige Möglichkeit, um Membranproteine herzustellen. Sie eignen sich besonders für Proteine aus Säugetieren, also auch für menschliche Proteine“, erklärt Sinning.
In ihrer Forschung beschäftigt sich die Wissenschaftlerin hauptsächlich mit der Struktur und Funktion von Proteinkomplexen. Dabei hat Sinning in den vergangenen Jahren zahlreiche grundlegende Erkenntnisse herausgefunden – dafür bekommt sie den Leibniz-Preis. „Anwendungen interessieren uns erst später“, sagt sie und lacht ihren Mitarbeiter Roger an, der gerade mit einer überdimensionalen Pipette eine Flüssigkeit aufzieht und anschließend in ein Röhrchen füllt.
Schreibtisch statt Labor
Diese Arbeit macht Irmgard Sinning nicht mehr selbst – ein paar Tage im Labor wären Luxus, wie sie erzählt. Als Lehrstuhlinhaberin an der Universität Heidelberg leitet die Wissenschaftlerin ein kleines Unternehmen, ihre Arbeitszeit verbringt sie überwiegend am Schreibtisch. Sie entwickelt Projekte, schreibt Anträge, sucht Personal, stellt dieses ein, muss das Budget im Auge behalten, kümmert sich um neue Investitionen, veröffentlicht regelmäßig wissenschaftliche Berichte.
Durchschnittlich ist sie drei bis vier Tage in der Woche in Heidelberg, die restliche Zeit reist sie durch die Welt – nimmt an Tagungen teil, hält Vorträge, trifft Kollegen, gibt Vorlesungen oder hält Prüfungen ab.
Daheim ist sie "Irme"
Regelmäßig macht sie dabei Halt in Schwenningen, besucht ihre Mutter auf dem Hof oder trifft sich mit ihren Brüdern. „Da ist man einfach geerdet, da ist man niemand besonders“, sagt die Professorin. Zum letzten Mal war sie längere Zeit über Weihnachten zu Hause, kümmerte sich um ihre Mutter, die sich den Ellbogen gebrochen hatte. Da ist sie einfach Irme, so nennt die Mama die Tochter schon immer.
Dann schläft die Wissenschaftlerin „natürlich im alten Kinderzimmer“, ratscht mit Nachbarn, trifft alte Schulfreunde. Im Mai findet in Dillingen heuer ein Klassentreffen statt. Sinning durfte den Termin aussuchen – „meine Freundin meinte, mit mir sei die Terminfindung besonders schwierig“.
Zeitdruck: "Da hilft nur Rotwein"
Schwierige Momente gibt es auch in ihrer Arbeit. Nämlich dann, wenn eine Entdeckung keine Entdeckung mehr ist. Weltweit wird geforscht, weltweit wollen alle Forscher die Schnellsten sein. „Wenn man Monate oder gar Jahre an etwas arbeitet und dann feststellt, dass man auf der Zielgeraden überholt wird, ist das bitter. Dann hilft nur noch viel Rotwein“, sagt sie und muss laut lachen. Generell sei aber genau das an ihrer Arbeit so spannend. Und: „Jede Antwort wirft fünf neue Fragen auf. Auch wenn ein Versuch mal nicht funktioniert, ist es ja interessant zu wissen, warum es nicht geklappt hat.“
Am Mittwoch bekommt sie für ihren Einsatz und ihre Leistung den Leibniz-Preis in Berlin verliehen. Das Preisgeld in Höhe von 2,5 Millionen Euro ist forschungsgebunden. „Ich habe mir noch nicht überlegt, was wir damit machen.“ Zur Verleihung kommen ihre beiden Brüder mit Frauen und ihr Patenkind angereist. „Alle freuen sich sehr mit mir, das freut mich natürlich auch“, so Sinning. Vielleicht auch, weil „die Irmi so geblieben isch, wie se war“, wie es eine Nachbarin in Schwenningen ausdrückt. Ohne weißen Kittel, ohne bunte Schlappen, ohne Schutzbrille und nicht Frau Prof. Dr. Einfach Irmi.
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