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Foto: Hardy Müller/SC Exhibitions
Foto: Hardy Müller/SC Exhibitions

Modellhaft nachgebildete Urzeitfamilie aus der aktuell in München zu sehenden Lascaux-Ausstellung.

Interview
13.07.2019

Frau am Herd, Mann auf der Jagd – war es wirklich so?

Von Christa Sigg

Plus In den aktuellen Gender-Diskussionen ist immer wieder auch vom „klassischen Rollenmodell“ die Rede. Eine Prähistorikerin rückt die Dinge zurecht.

Für die klassischen Geschlechterrollen wird gerne die Urzeit bemüht: Der Mann hat gejagt, die Frau war die Sammlerin. Einwände?

Brigitte Röder: Ist es nicht absurd, davon auszugehen, dass in zweieinhalb Millionen Jahren Menschheitsgeschichte immer dieselben Verhältnisse geherrscht haben? Wir wissen heute doch, dass sich die Umwelt drastisch verändert hat und die Lebensumstände der Menschen sehr verschieden waren.

Betrachten wir die Geschichte zu sehr aus der Gewohnheit heraus?

Röder: Genau das ist der Punkt. Wir übertragen unsere Vorstellungen von vermeintlich natürlichen und ursprünglichen Geschlechterrollen auf die gesamte Urgeschichte. Der Jäger wird dabei in der Rolle des Ernährers, die Frau in der Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter gesehen. Dieses Rollenmodell wurde in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt und ist erst rund 250 Jahre alt.

Was kann man dann überhaupt sagen?

Röder: Da es aus der Urgeschichte keine schriftlichen Überlieferungen gibt, nutzen wir die sterblichen Überreste als Quelle. Bestimmte Tätigkeiten, die man immer wieder ausübt, schreiben sich in den Körper ein und verändern das Skelett. Ein gutes Beispiel ist Hallstatt im Salzkammergut. Dort hat man aus der Zeit zwischen 800 und 450 vor Christus die Überreste von alten Salzbergwerken und in unmittelbarer Nähe davon ein Gräberfeld ausgegraben. Offensichtlich wurden hier die Bergleute bestattet – überraschenderweise nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder.

Was erzählen die weiblichen Skelette?

Röder: Sie zeigen, dass die Frauen schwer getragen, das heißt, das Salz nach oben transportiert haben. Die Skelettfunde beweisen auch, dass sich die Kinder von klein auf an dieser schweren Arbeit beteiligt haben. Die Kinder waren also unter Tage mit dabei. Es war aber keineswegs nur eine bestimmte Schicht, die von frühester Kindheit an so hart gearbeitet hat.

Sondern die ganze Gemeinschaft?

Röder: Etliche Personen wurden mit außerordentlich reichen Beigaben bestattet, darunter Spitzenprodukte des damaligen Kunsthandwerks. Ihre Skelette weisen genau die gleichen Belastungen auf wie diejenigen mit keinen oder wenig Beigaben. Das widerspricht unserer Vorstellung, dass man ab einem gewissen Reichtum andere körperlich für sich arbeiten lässt.

Kriegerin von Birka: 140 Jahre lang ein Mann - dann eine Frau

Wie ist es mit den Waffen? Findet man sie eher in Männergräbern?

Röder: Gräber sind kein Spiegel des Alltags, sondern ein ritueller Kontext. Deshalb ist es schwierig, hier auf die Alltagsaktivitäten der Bestatteten zu schließen. In manchen Gesellschaften treten Waffen überwiegend in Männergräbern auf, aber auch hier gibt es immer wieder Ausnahmen. Denken Sie an die Kriegerin von Birka aus der Wikingerzeit.

Eine Frau!

Röder: Die aber fast 140 Jahre als Mann galt, bis 2017 eine DNA-Analyse gemacht und festgestellt wurde, dass es sich um eine Frau handelt.

Wer hat sich um die Kinder gekümmert?

Röder: Die Familie, wie wir sie kennen, das heißt, ein monogames Paar mit gemeinsamen Kindern, bei dem der Mann die Rolle des Ernährers und die Frau die Rolle der Gattin, Hausfrau und Mutter hat, ist, wie gesagt, ein relativ junges Phänomen. Doch auch vor etwa 250 Jahren, als sie entstand, war sie für große Teile der Gesellschaft gar nicht lebbar. In bäuerlichen Milieus und in der Arbeiterschaft konnten die Frauen nicht zu Hause bleiben und sich ausschließlich um Haushalt und Kinder kümmern, zumal die Kinder ja auch mitgearbeitet haben.

War die Erziehung in der Urgeschichte eher eine Gemeinschaftsaufgabe?

Röder: Erziehung ist immer vom Menschenbild und vom kulturellen Wertesystem geprägt. Daher gibt es eine unglaubliche Vielfalt an Erziehungskonzepten, und von dieser Vielfalt gehe ich auch für die Urgeschichte aus. Aber vielleicht gab es überhaupt keine Erziehungskonzepte. Und was das Lernen angeht, so werden in vielen außereuropäischen Gesellschaften Kindern die grundlegenden Kulturtechniken – vom Feuermachen übers Kochen bis hin zu landwirtschaftlichen Tätigkeiten – von den Erwachsenen gar nicht explizit vermittelt. Kinder bringen sich das meiste durch Beobachten und Nachahmen selbst bei. Zum Teil unterstützen oder korrigieren auch ältere Kinder.

Womit wir wieder beim Kümmern um die Kinder wären.

Röder: In vielen Gesellschaften ist und war das die Aufgabe der älteren Kinder. Unsere Idee, dass stets die Mütter zu Hause bleiben, um sich um die Kinder zu kümmern und deshalb gar nicht auf die Jagd gehen oder Handel treiben können, ist völlig absurd.

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Foto: Röder
Foto: Röder

Brigitte Röder forscht zur Ur- und Frühgeschichte.

Manches weiß man ja auch durch die Höhlenmalereien. Viele gehen davon aus, dass Männer die Künstler waren.

Röder: Auch dieser Mythos hat mit dem bürgerlichen Rollenmodell zu tun: Der Mann, der Jäger, versorgt seine Familie nicht nur mit Fleisch, sondern er bringt der Menschheit auch die Zivilisation, das heißt, die Kunst, während die Frau als ewige Hausfrau den Höhlenboden schrubbt.

In welchem Zusammenhang sind die Malereien entstanden?

Röder: Zunächst brachte man die Malereien mit Jagdmagie in Verbindung und interpretierte die Höhlen so als einen Raum, in dem die Jäger ihre Rituale abhielten. Die Untersuchung von Nahrungsresten aus Siedlungen hat dann aber gezeigt, dass die Malereien gerade nicht den Speisezettel abbilden. Inzwischen ist außerdem klar, dass sich in den Höhlen auch Frauen und Kinder aufhielten und an ihrer künstlerischen Ausgestaltung beteiligt waren. Das lässt sich für die farbigen Handabdrücke, die sich teils direkt bei den Malereien finden, belegen. Und in manchen Höhlen gibt es Linienmuster, die mit den Fingern in den damals noch weichen Lehm der Wände eingestrichen wurden. Auch daran waren Kinder zweifelsfrei beteiligt. Deshalb sehe ich keinen Grund, weshalb die Tierbilder ausschließlich das Werk von Männern sein sollten.

Röder zu Transgender: "Wir sind heute geradezu geschlechtsbesessen"

Heute ist Transgender das große Thema, gibt es Hinweise aus der Steinzeit?

Röder: Die Frage ist schwierig, für die Beantwortung bräuchte es Schriftquellen. Hinweise auf Intersexualität könnten menschliche Figürchen mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen sein, die es nahezu aus allen Zeiten gibt. Phasenweise sind sie allerdings so häufig, dass sie wohl eher eine symbolische Bedeutung haben und vielleicht für ein anderes Geschlechterkonzept stehen, das nicht auf der Polarität Mann-Frau beruht. Was das sexuelle Begehren anbelangt, gehe ich mit Blick auf historische und aktuelle Gesellschaften davon aus, dass es auch in der Urgeschichte verschiedene Formen gab. Interessanter als diese Fragen finde ich jedoch ein anderes Phänomen: Wir sind heute geradezu geschlechtsbesessen. Aus der Urgeschichte gibt es viele Darstellungen von nackten Körpern, die geschlechtlich überhaupt nicht gekennzeichnet sind.

Die Venus von Willendorf aus der Altsteinzeit ist dagegen sehr eindeutig.

Röder: Und mit ihren äußerst üppigen Formen wird sie gerne als Fruchtbarkeitsgöttin gedeutet, was jedoch keineswegs zwingend ist. Aus derselben Zeit gibt es auch mädchenhaft schlanke Darstellungen, geschlechtlich nicht markierte oder doppelt lesbare Figuren. Im Prinzip haben wir ein Kontinuum von eindeutig männlich zu eindeutig weiblich mit vielen Zwischenformen. Sehr wahrscheinlich gab es also Gesellschaften, die ein anderes Geschlechterkonzept hatten als wir und in denen das Geschlecht lange nicht so wichtig war wie heute.

  • Die Freiburgerin Brigitte Röder ist Professorin für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Basel. Ihre Schwerpunkte liegen auf der Geschlechter-, Kindheits- und Sozialgeschichte.
  • Die Ausstellung „Lascaux – die Bilderwelt der Eiszeit“ läuft noch bis 8. September in der Kleinen Olympiahalle in München.

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