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Foto: Kai-Uwe Wärner, dpa
Foto: Kai-Uwe Wärner, dpa

Der 1. Juli 1990 war ein historischer Tag für Deutschland: Nach langem Schlangestehen vor einer Leipziger Sparkassen-Filiale freut sich dieser Mann über seine D-Mark-Banknoten. 

Interview
29.06.2020

Theo Waigel: "Die DDR ist politisch wie ökonomisch gescheitert“

Von Stefan Stahl

Plus Theo Waigel erinnert sich an die Zeit vor 30 Jahren, als die D-Mark in Ostdeutschland eingeführt wurde. Der Ex-Finanzminister verteidigt das Umtauschverhältnis.

Herr Waigel, am 1. Juli 1990, also vor bald 30 Jahren, warteten viele Bürger in Ostdeutschland vor Banken in langen Schlangen auf die Auszahlung ihrer ersten D-Mark-Scheine. War die Einführung der D-Mark zum Kurs eins zu eins, was Löhne und Renten betrifft, eine ökonomische Fehlentscheidung, wie es der frühere Bundesbank-Präsident Pöhl einmal nannte?

Theo Waigel: Die Umstellung lag ja insgesamt genau bei 1:1,181, wenn man auch noch die Umstellung der In- und Auslandsverbindlichkeiten im Osten einbezieht. Damit liegt sie sehr nah an den Vorstellungen der Deutschen Bundesbank von einer Umstellung von 1:1,2. Die Form der Umstellung war auf alle Fälle in der von uns vorgenommenen Form absolut alternativlos.

Warum eigentlich?

Waigel: Weil ein ostdeutscher Arbeitnehmer im Schnitt 1250 Ost-Mark verdient hat. Hätten wir das im Verhältnis 1:2 umgestellt, wären ihm noch 625 D-Mark geblieben. Einem ostdeutschen Rentner, der 600 bis 800 Ost-Mark bekommen hat, wären noch 300 bis 400 D-Mark als Rente übrig geblieben. Dann wären aber fast alle Bürger aus dem Osten zu uns gekommen. Ein Bürger aus Frankfurt an der Oder, der in Frankfurt am Main Sozialhilfe beantragt hätte, wäre besser dagestanden, als wenn er zu Hause normal gearbeitet hätte. Die Umstellung 1:2 hätte also nur funktioniert, wenn wir die Mauer, die von tapferen Frauen und Männern durchlöchert worden ist, wieder aufgebaut hätten. Damit wären wir zum Gespött der Weltgeschichte geworden. Auch die Bundesbank hat das längst erkannt.

Dennoch kam es auch durch das Umtauschverhältnis, das nicht der schwachen Leistungskraft der Ost-Wirtschaft entsprach, zu massiven ökonomischen Verwerfungen in den neuen Bundesländern.

Waigel: Das passierte auch deswegen, weil die Tariflöhne in Ostdeutschland zu schnell gestiegen sind und so Wettbewerbsvorteile verspielt wurden.

Doch Ökonomen warnten grundsätzlich vor einer Umstellung der Löhne von 1:1, weil das zu einem Arbeitsplatzabbau im Osten führen kann.

Waigel: Was nützen Politikern solche Warnungen, wenn die Ökonomie an ihre Grenzen stößt, also die Menschen Ostdeutschland verlassen hätten.

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Foto: Robert Schlesinger, dpa (Archiv)
Foto: Robert Schlesinger, dpa (Archiv)

Der Ex- Finanzminister Theo Waigel (CSU) im Jahr 2010.

Der frühere Kanzler Kohl sagte bei solchen Anlässen, er sei Politiker und treffe Entscheidungen. Wirtschaftler würden die in der Folge auftauchenden Fragen dann schon lösen.

Waigel: Auch Ökonomen müssen das Verhalten der Menschen respektieren. Wenn die Menschen in Scharen Ostdeutschland verlassen hätten, weil wir die Löhne und Renten 1:2 umgestellt hätten, wäre dies einer ökonomischen Katastrophe gleich gekommen, zumal mehr als drei Millionen Menschen die DDR von 1945 bis 1989 verlassen hatten. Uns halfen damals ökonomische Theorien nicht weiter, weil sie in der Praxis nicht anwendbar waren.

Haben Sie die Argumente der Ökonomen gar nicht berücksichtigt?

Waigel: Natürlich waren wir uns der wirtschaftlichen Folgen bewusst, die eine Umstellung von 1:1 bei den Löhnen mit sich bringt. Wir waren nicht blind. Wir mussten aber abwägen. Wir konnten die Mauer eben nicht noch mal hochziehen. Ökonomen, die unser damaliges Verhalten kritisieren, halte ich schlicht für blauäugig. Politik heißt, unter gegebenen Umständen das unter diesen Umständen Mögliche und damit Richtige zu tun.

Und die Zeit drängte damals.

Waigel: Wir mussten schnell handeln. Es gab keine Zeit für Stufenlösungen. Schließlich war Gorbatschow nur noch eineinhalb Jahre im Amt. Nach Gorbatschow, also weder mit Jelzin noch Putin, hätten wir erreicht, was mit Gorbatschow möglich war.

Haben Sie und Kohl rückblickend damals wirklich keine Fehler gemacht?

Waigel: Ich bin heute zutiefst davon überzeugt, dass unsere Entscheidungen im Grundsatz richtig waren. Ich habe mal meinen früheren Staatssekretär Gert Haller, einen gescheiten Ökonomen, gefragt, was wir falsch gemacht haben.

Was hat er geantwortet?

Waigel: Haller sagte zu mir: Wir haben fast alles richtig gemacht. Natürlich wurden auch Fehler begangen. Und manche Entscheidungen der Treuhand bei der Privatisierung von Betrieben kann man kritisieren. Doch die Grundsatzentscheidungen waren richtig und notwendig. Wir haben in den letzten 30 Jahren vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Wiedervereinigung ausgegeben und stehen trotzdem ökonomisch besser da als fast alle Staaten um uns. Das sagt doch alles.

Dennoch gehen die Meinungen über den Erfolg der D-Mark-Aktion auseinander. Der einstige SPD- und heutige Linken-Politiker Lafontaine warnte inständig vor der Einführung der D-Mark als der härtesten Währung des Westens in einer der schwächsten Industriestaaten.

Waigel: Die ökonomischen Fakten sprechen für sich. Hier verweise ich alle Kritiker auf das Buch „Der Treuhand-Komplex“ des Journalisten Norbert F. Pötzl, der lange für den Spiegel gearbeitet hat. Demnach haben die Tariflöhne im Osten Deutschlands 98 Prozent des Westniveaus erreicht, während es bei den tatsächlichen Löhnen immerhin 82 Prozent sind. Die Arbeitslosigkeit betrug 1999 im Osten im Schnitt 17,3 Prozent, zuletzt lag sie bei nur 7,7 Prozent. Die Rentner im Osten sind im Vergleich zu den Rentnern im Westen gut gestellt worden. Und die ökologische Situation hat sich seit der Wiedervereinigung in Ostdeutschland massiv verbessert. Die Lebenserwartung ist beträchtlich gestiegen, die Gesundheit der Menschen hat sich verbessert, die Suizidrate ist gesunken, die Zufriedenheit ist gestiegen. Das ist keine schlechte Bilanz der deutsch-deutschen Währungsunion und der Wiedervereinigung, wenn man sich überlegt, wie katastrophal die ökonomische Lage Ostdeutschlands im Jahr 1990 war. Damals befand sich dort die Produktivität auf einem Niveau von weniger als 30 Prozent Westdeutschlands.

Dennoch sind viele Bürger in Ostdeutschland unzufrieden. Sie verweisen auf den Kahlschlag durch die Treuhand, fühlen sich benachteiligt gegenüber Westdeutschland und wählen wie bei der letzten Landtagswahl in Sachsen zu 27,5 Prozent AfD. Da stimmt doch was nicht.

Waigel: Auch in Westdeutschland gibt es einige Regionen mit hohen Ergebnissen für die AfD.

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Foto: Sammlung Waigel
Foto: Sammlung Waigel

1989/90 wurde Theo Waigel zu einem maßgeblichen Wegbereiter der deutschen und europäischen Einigung: Unser Bild zeigt Theo Waigel mit dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow.

Das wird im Osten aber vielfach deutlich getoppt.

Waigel: Dabei muss man berücksichtigen, was die Menschen in den heutigen ostdeutschen Bundesländern von 1945 bis 1989 mitgemacht haben. Sie hatten es schwerer als ihre Landsleute im Westen, bei denen es seit Anfang der 50er Jahre ökonomisch nach oben ging. Und in Westdeutschland wurde spätestens seit den 60er Jahren die deutsche Geschichte während des Nationalsozialismus im Gegensatz zum Osten gründlich aufgearbeitet und nicht verschwiegen. Wir im Westen hatten Austausch mit der ganzen Welt, die Bürger der DDR waren eingesperrt. Hinzu gesellt sich im Osten das Gefühl, benachteiligt und vom Westen überfahren worden zu sein. Die eine oder andere Kritik ist sicher berechtigt. Dennoch ist der überwiegende Teil der Bevölkerung dankbar und zufrieden. Und die Menschen dort können stolz auf das Geleistete sein. Denn der Aufschwung in der DDR in den 90er Jahren hat die Dimension des Wirtschaftswunders in Westdeutschland in den 50er Jahren erreicht.

Doch mancher West-Bürger denkt sich: Es sind Milliarden in den Osten geflossen und nun wählen viele undankbare Bürger dort AfD, was dem internationalen Ansehen Deutschlands schadet.

Waigel: Das ist keine gute Reaktion. Zum einen darf man von niemandem Dankbarkeit erwarten, nicht einmal in der eigenen Familie. Die Erwartung an Ostdeutsche, sie müssten nun dankbar sein, führt natürlich genau zum Gegenteil.

Ist die DDR wirtschaftlich gescheitert? Dem Staat drohte ja in der Endphase die Zahlungsunfähigkeit.

Waigel: Die DDR ist sowohl politisch wie ökonomisch gescheitert. Das Ende der DDR wurde auch deshalb eingeläutet, weil der damalige sowjetische Staatspräsident Gorbatschow in einer nüchternen Analyse festgestellt hat, dass die DDR zum Subventions-Empfängerunternehmen der Sowjetunion geworden war. Dabei befand sich die Sowjetunion schon in katastrophalen finanziellen Verhältnissen. Und nun erkannten die Verantwortlichen dort, dass sie auch die DDR mit billiger russischer Energie am Leben halten müssen. Diese Mengen an Gas und Öl hätte die Sowjetunion viel teurer gegen Devisen im Westen verkaufen können. Auch deshalb hat sich Gorbatschow mit der Idee eines wiedervereinigten Deutschlands als einem Land angefreundet, mit dem er sich gut versteht.

Am Ende könnte auch hier wie bei so vielen Entscheidungen die Ökonomie der entscheidende Treiber gewesen sein.

Waigel: Den Zusammenhang haben wir nach der Wiedervereinigung nicht intensiv genug diskutiert. Wir hätten den Menschen aus der früheren DDR ohne jeden Vorwurf früh sagen müssen, wie es wirklich wirtschaftlich um sie stand. Wir hätten ihnen also sagen müssen, dass die Vollbeschäftigung eine Fata Morgana war und dass die Produktivität der Wirtschaft katastrophal war. Gerhard Schürer, sozusagen der Chef-Ökonom der DDR, hat 1988 den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker darauf hingewiesen, dass in Kürze die Insolvenz der DDR bevorstehe, wenn nicht westliches Kapital in das Land fließt.

Wie hat Honecker auf den Hilferuf aus den eigenen Reihen reagiert?

Waigel: Er zeigte sich völlig ignorant. Deswegen wagte Schürer bei Honeckers Nachfolger Egon Krenz einen zweiten Anlauf. Dabei kam der Experte zu der unglaublichen Einschätzung, dass man den Lebensstandard der DDR um 25 bis 30 Prozent senken müsse, damit der Staat finanziell über die Runden kommt. Man stelle sich einmal vor, wir Politiker der Bundesrepublik hätten das in den Jahren 1989 und 1990 den Bürgern der DDR verkündet. So ein drastischer Sanierungsplan hätte nur funktioniert, wenn wir die Mauer noch höher gezogen hätten.

Ein US-Unternehmer hat einmal sein tiefes Befremden Ihnen gegenüber geäußert, dass Sie die marode DDR für so viel Geld „gekauft“ haben.

Waigel: Ja, er sagte zu mir: Theo, to buy the DDR, that was a bad acquisition. Der Mann hatte nach dem Krieg einige Jahre in Deutschland verbracht und war eigentlich sympathisch. Als er das sagte, war ich zunächst etwas geschockt. Dann habe ich ihm entgegnet: Ganz Deutschland ist heute eine funktionierende Demokratie. Ganz Deutschland gehört der Nato an. Ganz Deutschland ist Mitglied der Europäischen Union. Und dann meinte ich gegenüber dem Unternehmer bei dem Gespräch Mitte der 90er Jahre auch noch: Wenn die USA im Irak in 20 Jahren eine ähnlich gute Bilanz wie wir vorweisen können, dann dürfe er mich wieder fragen, ob das mit der DDR ein gutes oder schlechtes Investment gewesen ist.

Wie reagierte der Amerikaner darauf?

Waigel: Er sagte nichts mehr. So oft ich ihn später traf, meinte er nur: Theo, I will never repeat the question. Er gelobte also, nie wieder die Frage nach der DDR zu stellen. Der Mann war geheilt.

Zur Person: Theo Waigel, 81, war von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU und von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister.

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