

Raus aufs Land! Was Menschen dazu bewegt, aufs Dorf zu ziehen
In Deutschland wenden sich Familien verstärkt vom Leben in der Stadt ab. Stadtflucht nennen manche das. Doch wovor fliehen diese Menschen eigentlich und welche Rolle spielt dabei Corona?
Es ist schon ein besonderes Gefühl, das gibt es eben nur in der Stadt. Michael Green erinnert sich gerne zurück an sein altes Leben in München. An die lauen Sommerabende am Gärtnerplatz mit einem kühlen Bierchen in der Hand. An die Freunde, die jetzt so weit weg sind. An die Open-Air-Konzerte und die Events. „Das alles suchst du hier vergeblich“, sagt er mit einer ausladenden Handbewegung. „Aber ich wollte trotzdem raus.“ Seine Ehefrau Melly wirft ein: „Was heißt, wir wollten raus? Wir hatten ja keine andere Wahl.“
Michael und Melly Green sitzen bei einer Tasse grünem Tee auf ihrem Wohnzimmersofa in ihrem renovierten Bauernhaus in der 2300-Einwohner-Gemeinde Raisting südlich des Ammersees. Seit zwei Jahren wohnen sie dort zur Miete, vergangenes Jahr kam ihr Sohn Alan zur Welt.

An der alten Wohngemeinschaft in der Großstadt donnerte der Verkehr der vierspurigen Straße vorbei. Jetzt hören sie stattdessen das Klappern der Pferdehufe auf dem Asphalt, wenn eine Kutsche vorbeifährt. Die Milchpumpe des Nachbarhofes, die von früh bis spät rattert und rumst.
Und die 90 Glockenschläge des Ave-Maria-Läutens von der Kirche die Straße runter, die Michael eines morgens um halb sechs gezählt hat, als er wegen des Gebimmels nicht mehr schlafen konnte. „Wir sind sehr glücklich hier“, sagt Melly Green. „Aber ich wäre nicht die Erste gewesen, die gesagt hätte, ich will raus aus der Stadt und aufs Dorf ziehen. Es waren die Umstände, die uns dazu gebracht haben.“
Wie Familie Green geht es immer mehr Menschen in Deutschland. Das berichtet Geografie-Professor Marc Redepenning von der Universität Bamberg. Bis 2015, so erklärt er, sind viele Städte über 100.000 Einwohner stark gewachsen. „Doch seit 2015 beobachten wir, dass sich die Wanderungsströme bundesweit verändern“, sagt er.
„Seither sehen wir, dass tatsächlich wieder mehr Menschen die Städte verlassen, als hineinziehen.“ Stadtflucht nennen manche dieses Phänomen. Redepenning ist mit diesem Begriff jedoch noch vorsichtig. „Es ist ein erster Trend, aber der Begriff passt meiner Meinung nach nicht wirklich. Flucht suggeriert, dass Menschen nicht freiwillig diese Entscheidung getroffen haben, sondern dass sie dazu gezwungen wurden.“
„Wir haben uns keine Illusionen gemacht, in München eine Wohnung zu bekommen"
So ganz freiwillig war allerdings auch der Umzug von Melly und Michael Green nicht, erzählen die 38-Jährigen. Als ihre WG in der Stadt aufgelöst wurde, waren sie gezwungen, sich umzuorientieren. Melly sagt: „Wir haben uns keine Illusionen gemacht, in München jemals eine Wohnung zu bekommen. Und wir haben davon gesprochen, dass wir irgendwann aufs Land ziehen wollen, wenn wir Kinder haben.“ Beide sind selbst in einem Dorf aufgewachsen, sie in der Nähe von Koblenz, er am Rand von München.
Sie kannten das Leben zwischen Trachtenverein und Ministrantendienst in der Kirche. Michael: „Mir war immer klar, dass ich irgendwann wieder auf dem Land leben möchte. So wie ich aufgewachsen bin, zwischen Wald und Wiesen.“ Inwieweit war es also eine Flucht aus der Stadt aufs Land?
Mit dieser Frage hat sich Geograf Redepenning intensiv auseinandergesetzt. Für die Wanderungsentscheidung, so nennt es der Wissenschaftler, gebe es nie nur einen Grund. Es sei vielmehr ein Geflecht aus verschiedenen Gründen. „Was verliere ich? Was kann ich dazugewinnen? Das ist ein sehr individueller Abwägungsprozess. Und trotzdem gibt es einige Faktoren, die ganz viele Menschen betreffen und beeinflussen.“
Redepenning spricht von sogenannten abstoßenden und anziehenden Faktoren. Zum Beispiel: Bezahlbarer Wohnraum ist in der Stadt immer schwerer zu bekommen, sich eine eigene Wohnung oder ein Haus zu kaufen für Normalverdiener praktisch unmöglich, so Redepenning.
„Das wären solche abstoßenden Faktoren, dass die Menschen sich von der Stadt abwenden.“ Gleichzeitig werde das Land immer attraktiver. „Die Alternativen liegen durchaus in den ländlichen Strukturen, viele kleine und mittlere Städte gerade in Bayern können auf ihre Weise das, was auch die großen können und was für viele Menschen ausreichend ist. Sie haben auch Kultur, Schwimmbäder, Ärzte, Kinos, einen Bahnhof und eine ausgewogene Versorgung.“

Familie Green weiß, wovon der Wissenschaftler spricht. Sie können sich noch gut an ihren eigenen Entscheidungsprozess erinnern, an das Abwägen und die Suche nach einem Haus auf dem Land. „Selbst wenn wir gewollt hätten, hätten wir keine Wohnung in München oder Augsburg bekommen“, erzählt Michael. „Wir sind beide selbstständig, wenn du keinen Arbeitsvertrag hast, fällst du gleich durchs Raster, da wirst du nicht mal eingeladen.“
Auch ihr jetziger Vermieter hatte Bedenken. „Auch er wollte sich absichern, dass genug Geld reinkommt“, sagt Michael. „Aber auf dem Land ist man einfach sozialer, da konnten wir als Personen überzeugen. Von Mensch zu Mensch. In München bekommst du dazu gar keine Chance.“
Ein Haus zu finden, war dennoch alles andere als leicht, erzählen die Greens. Monatelang haben sie im Internet gesucht, Leute angeschrieben und an den Banken die Aushänge durchforstet. Sie hatten sich schon im Wohnmobil leben sehen, sagt Melly Green. Bis eine Freundin, die in Raisting aufgewachsen war, ihnen den Tipp gab und einen Kontakt vermittelte. „Der Vermieter wollte das Haus gar nicht inserieren, weil er das letzte Mal allein in einer Nacht über 70 Mails bekommen hatte. Das war also ein echter Glücksgriff.“
Und besonders viel Glück hatten sie auch, was Corona anbelangt, sagt Melly Green. „Ich weiß gar nicht, wie oft ich gesagt habe, wie froh ich bin, hier zu leben, als im März letzten Jahres der erste Lockdown losging.“ Sie seien viel spazieren gegangen, hätten Urlaub auf der Terrasse gemacht und im Garten – und in der Natur viel leichter die Krise vergessen können. „In der Stadt wären wir, glaube ich, viel mehr daran erinnert worden, was sich alles verändert hat. Und alles, was das Stadtleben für uns so reizvoll gemacht hat, war ja eh verboten.“
Corona, ein wichtiges Stichwort auch für Marc Redepenning. Vor allem in Bezug auf die Stadtflucht-Bewegung. Er ist überzeugt, dass die Pandemie für viele Menschen ein weiterer Mosaikstein war auf dem Weg zu ihrer Entscheidung, aus der Stadt und aufs Land zu ziehen. „Wie ein Katalysator, der manche darin bestärkt hat, jetzt den Schritt zu wagen.“
Wie gravierend Corona die Stadtflucht-Bewegung beeinflusst, wenn nicht sogar verstärkt hat, könne der Bamberger Geograf jedoch noch nicht sagen. „Es gehen jetzt die ersten Daten von Befragungen und Untersuchungen ein, wie Corona die Entscheidung für einen Umzug und die Wohnart in Bayern verändert hat. Die Statistik ist am Entstehen, dafür ist das Phänomen tatsächlich noch zu frisch.“
Ilka und Franz Haum sind dankbar für ihr Leben auf dem Land
Corona, die Pandemie, der Lockdown. Auch Ilka und Franz Haum waren dankbar für ihr Leben auf dem Land, froh über die Möglichkeit, in ihrem Haus und beim Wandern in der Natur der Krise zu entfliehen. Dabei waren beide eigentlich Stadtmenschen, echte Münchner Kindl, wie sie selbst sagen. Sie lebten über 30 Jahre in der Innenstadt von Garching. Doch 2017 sind sie in ein 25-Häuser-Dorf nahe dem oberfränkischen Helmbrechts südlich von Hof gezogen. Warum?

„Wir haben in einer Dienstwohnung gelebt, es war immer klar: Sobald ich in Ruhestand gehe, müssen wir ausziehen“, erzählt der 60-jährige Franz Haum. „Was also tun?“ Die beiden überlegten sich, entweder ein Wohnmobil zu kaufen und ohne festen Wohnsitz zu leben. Oder für die Zukunft vorzusorgen und sich ein kleines Haus zu kaufen. Lange grübelte das Paar, wägte Vor- und Nachteile ab. 2015 begannen die Haums mit der Suche nach einer Immobilie, hunderte Häuser schauten sie sich an.
2017 fanden sie ihr Traumhaus, doch bevor sie letztendlich umziehen konnten, mussten sich beide in der neuen Heimat auch eine neue Arbeit suchen. Es sind ja noch einige Jahre bis zur Rente. Mehr als 250 Kilometer von Garching, von den Kindern und Enkeln liegt nun das neue Zuhause entfernt. „Wir haben halt geschaut, wo es schön ist und wo wir uns etwas leisten können“, erzählt die 55-jährige Ilka Haum.
Geografie-Professor Redepenning: „Auch das Land hat seine Grenzen in Sachen Anziehungskraft“
Ein entscheidender Punkt, sagt Marc Redepenning. „Auch das Land hat seine Grenzen in Sachen Anziehungskraft.“ Nicht überall ist zum Beispiel die Internetverbindung gut genug, etwa fürs Homeoffice. Im stadtnahen Umfeld steigen die Preise außerdem immer stärker an. „Viele Menschen müssen deshalb noch weiter wegziehen, bis sie sich etwas leisten können. Und die, die in Dienstleistungsberufen arbeiten, sind oft auf ein städtisches Umfeld angewiesen, weil es für ihre Jobs eine gewisse Infrastruktur und Nachfrage braucht“, sagt Redepenning. „Da sehe ich auf dem Land nur eingeschränktes Potenzial.“
Doch was ist eigentlich dieses Land? Als Geograf unterschiedet Marc Redepenning stadtnahe und stadtferne Räume. „Stadtnah bedeutet im Einflussbereich der Städte, diese Räume finden wir in Schwaben und Oberbayern. In der Oberpfalz oder im nördlichen Franken dagegen gibt es noch stärker stadtferne Räume.“

Doch eines ist dem Geografen auch klar: „Nur wir Wissenschaftler unterteilen derart streng.“ Dem Normalbürger seien solche Kategorien „eher egal“, es komme vor allem auf die persönliche Einstellung an, was man als Stadt und was als Land versteht. „Der Münchner empfindet es vielleicht schon als Land, wenn er nach Oberschleißheim oder Dachau zieht. Für den Allgäuer ist es vielleicht schon Stadt, wenn er von Missen-Wilhams nach Immenstadt oder Lindenberg fährt.“
Wissenschaftliche Raumkategorien würden nicht immer mit der Alltagswelt übereinstimmen. „Vor allem, wenn man eine bestimmte Vorstellung von dem Leben auf dem Land hat – und sich dann zeigt, ob die Vorstellung der Realität überhaupt entspricht.“
Wie war das bei Ilka und Franz Haum? „Wir haben uns kaum Vorstellungen gemacht“, sagt Ilka Haum. „Wir fühlen uns überall wohl. Aber wir vermissen nichts an der Stadt, überhaupt gar nichts. Hier können wir atmen. Nur mit dem Fränkisch klappt es manchmal noch nicht.“
Auch mit dem Oberbayerisch tut sich Melly Green manchmal noch schwer. „Ansonsten fühlen wir uns wohl und sind angekommen. Es hat sich alles gefügt.“ Melly bietet im Pfarrheim Yogakurse an, Michael hat das Gärtnern für sich entdeckt. „Und Alan kann hier so aufwachsen, wie wir es getan haben, und als gesundes Landkind groß werden.“
Zum Jahreswechsel haben wir für Sie die besten Reportagen des Jahres zusammengestellt. Dieser Text erschien erstmals am 18. Juni 2021.
