Die schwarzen Taxis gehören zu London wie Big Ben. Wer eines fahren will, muss einen legendär schweren Wissenstest absolvieren. Wer tut sich das heute noch an?
An einem Abend Mitte August stehen 22 Menschen vor einem Londoner Luxushotel, um sich auf den härtesten Test aller Zeiten vorzubereiten. Es ist eine bunte Gruppe, Leute aus verschiedenen Ländern, junge Männer, ältere Männer, auch drei Frauen sind gekommen.
Gerade noch haben sie sich fröhlich begrüßt, viele haben sich bisher nur auf Zoom gesehen. Jetzt sind alle Blicke auf Mark Baxter gerichtet, der heute zum ersten Mal eine Live-Stunde abhält. Baxter trägt kurze graue Haare und eine Brille mit schwarzem Rahmen. Er spricht mit unverkennbarem Londoner Akzent, rattert Straßen und Sehenswürdigkeiten herunter, Oxford Street, Picadilly Circus, King's Cross, es geht um Einbahnstraßen, Sackgassen und Abbiegerspuren. Zwischendurch fragt er die Anwesenden ab, die richtige Antwort ist selten dabei. Baxter beschwört die Gruppe wie ein Fußballtrainer: "Ihr müsst einen Weg finden, euch das alles zu merken."
Es gibt einen Namen für den Stoff, den Baxter im Kopf hat, und die meisten seiner Schüler noch nicht: "The Knowledge", zu Deutsch: das Wissen. So heißt auch die Prüfung, auf die sich die 22 Männer und Frauen vorbereiten, viele von ihnen schon seit Jahren. Ein Test, über den Mark Baxter sagt, er sei vergleichbar mit einer Doktorarbeit, wahrscheinlich sogar härter. Wer ihn bestehen will, lernt im Schnitt drei Jahre lang und muss dann den Stadtplan von London auswendig kennen, oder auch: 25.000 Straßen sowie rund 100.000 Orte, eine gewaltige Gedächtnis-Leistung. Vor allem aber muss er wissen, wie man dort hinkommt. Denn nur, wer die legendär schwere Prüfung meistert, erhält von der Stadt London die Lizenz, ein Taxi zu steuern. Nicht irgendeines, sondern ein "Black Cab", das berühmteste Taxi der Welt.
Knapp 17.000 dieser schwarzen Taxis fahren durch die britische Hauptstadt, einige von ihnen übrigens auch nicht schwarz, sondern weiß, grün oder pink. Sie sind nicht nur funktionales Fortbewegungsmittel, sondern ein rollendes Wahrzeichen, beliebtes Motiv auf T-Shirts, Socken oder Kühlschrank-Magneten; London-Folklore – wie der Big Ben, wie der Buckingham-Palast, wie die Union-Jack-Fahnen, die roten Doppeldecker-Busse und Telefonzellen. Fast wirkt es, als seien die Autos der Stadt nachempfunden, durch die sie fahren: Einerseits modern, andererseits so traditionell, so klassisch und typisch britisch, dass man nicht überrascht wäre, wenn plötzlich Winston Churchill aussteigen würde. Entsprechend stolz sind die meisten, wenn sie die offizielle Plakette der Stadt an ihrem Wagen anbringen können. In manchen Familien haben schon der Vater und der Großvater ein Black Cab gesteuert. Am Lenkrad des Kult-Taxis zu sitzen sei "eine Ehre", sagt Mark Baxter, der seine Lizenz seit 15 Jahren hat.
Die Londoner "Cabbies" soll es seit dem 17. Jahrhundert geben
Die "Cabbies", wie die Fahrer und Fahrerinnen genannt werden, datieren die Anfänge ihrer traditionsreichen Branche bis ins 17. Jahrhundert zurück. Damals, im Jahr 1621, fand sich das erste Mal der Begriff "Hackney coach" in offiziellen Dokumenten: eine schwarze Kutsche, die samt Fahrer angemietet werden konnte. Erst viel später wurde die motorisierte Version erfunden, der Begriff "Hackney carriage" hält sich jedoch bis heute für die schwarzen Taxis.
Und auch "The Knowledge", der schwere Aufnahmetest, kam erst später: 1865 wurde die Prüfung eingeführt. Die Gründe sind nicht ganz klar, vermutlich, so erzählt man es sich, weil sich 14 Jahre zuvor, im Jahr der großen Weltausstellung in London, so viele Touristen über unfähige Droschkenfahrer beschwert hatten.
Wenn die Black Cabs ein Wahrzeichen Londons sind, dann sind die Fahrer und Fahrerinnen so etwas wie die Botschafter ihrer geschichtsträchtigen Stadt, zumindest sieht das Mark Baxter so. "Für viele Menschen sind wir der erste Kontakt mit London", sagt er und es schwingt mit, dass er das durchaus als Verantwortung betrachtet. Gerade für Besucher und Besucherinnen von auswärts sei eine Fahrt im Taxi Teil des London-Erlebnisses. Ein Taxifahrer, der nichts über die Stadt erzählen könne? Baxter verzieht das Gesicht, es ist ziemlich klar, was er von der Vorstellung hält.
Der Black-Cab-Fahrer ist Geschichts-Fan. Wenn er nicht in einem Taxi sitzt, ist er Touristenführer. Seine Unterrichtsstunde hat er heute mit einer Ausführung über das "Domesday Book" begonnen, eines der berühmtesten historischen Dokumente Englands. Baxter ist überzeugt: Wer die Geschichte Londons kennt, dem fällt es leichter, durch die Stadt mit ihrem komplizierten, über Jahrhunderte gewachsenen Stadtplan zu navigieren.
70 Prozent der angehenden Fahrerinnen und Fahrer der schwarzen Taxis geben auf
Die Anwesenden scheinen diese Leidenschaft nicht alle zu teilen, vermutlich ist ihnen der Aufwand für die Prüfung auch so groß genug: tausende Stunden lernen und in der Stadt unterwegs sein, mit dem Fahrrad, zu Fuß, auf einem Scooter oder im Auto. Dazu kommen mindestens zwölf Zwischenprüfungen, über die an diesem Abend Gruselgeschichten ausgetauscht werden. Von fast unmenschlich strengen Prüfern ist da die Rede, von völlig obskuren Routen, die abgefragt würden. Die Quote der angehenden Fahrer und Fahrerinnen, die zwischendrin aufgibt, liegt bei 70 Prozent.
Lehrer Baxter empfiehlt, sich Eselsbrücken zu bauen, bestimmte Gedächtnistechniken anzuwenden, im Kopf durch die Stadt zu fahren wie mit einem Taxi-Simulator. "Wenn ihr an einem Museum vorbeikommt, dann geht rein", rät er der Gruppe. "Wer einmal durch ein Museum gelaufen ist, vergisst nicht mehr, wo es steht." Baxter macht den Anwesenden aber keine Illusionen über die Prüfung: "Das ist das Härteste, was ihr jemals machen werdet."
Wer nimmt das also auf sich – und warum?
Da ist zum Beispiel Kay, grüne Jacke, schwarze Handtasche. Sie ist eine der drei Frauen, die zur Unterrichtsstunde gekommen sind. Kay lernt schon seit 2016 für die Aufnahmeprüfung, neben ihrem regulären Job. Sie ist alleinerziehend, die Zeit knapp und die Prüfungsvorbereitung kostspielig – die hohen Anschaffungskosten für ein neues oder geleastes Taxi noch nicht einberechnet. Trotzdem wolle sie auf jeden Fall weiter machen. "Ich will mein eigener Boss sein", sagt sie. Und dass man als Taxifahrerin völlig flexibel sei, ein eindeutiger Vorteil mit kleinen Kindern.
Das Taxifahren sei allerdings auch "tough", ziemlich hart, vor allem als Frau. Sie kenne Kolleginnen, die sich gegen Gäste verteidigen mussten, erzählt Kay. Gleichzeitig wolle sie zeigen, dass auch Frauen die berühmten Taxis fahren können. Bisher sind Fahrerinnen deutlich in der Unterzahl: Nur rund zwei Prozent aller Black Cabs werden von Frauen gesteuert.
Eine der ungeschriebenen Regeln: Ein Londoner Taxifahrer nutzt kein GPS
Auch Steve lernt schon seit Jahren für seine Lizenz. "Fast sechs Jahre", sagt er, "und wahrscheinlich dauert es noch mal so lange". Steve ist Mitte 50, genauere Informationen werden in der Lerngruppe nicht ausgetauscht. Er spricht mit Bedacht, "Posh Steve" nennen sie ihn hier, weil er so vornehm klingt. Für ihn ist das Taxifahren der Plan B, ein Job, den er im Alter machen will, wenn er nicht mehr genug Kraft für seinen aktuellen Beruf hat. Und, sagt er, ihn reizt die schwere Prüfung: "Meine Frau hat mir davon erzählt und seitdem weiß ich, dass ich das machen will." Und was ist mit dem Geld? Steve lacht. "Sie werden keinen Taxifahrer finden, der ihnen erzählt, was er verdient. Und wenn er es tut, dann lügt er mit Sicherheit."
Um zu üben, fährt Steve unzählige Routen in der Stadt mit einem Scooter ab – zu jeder Jahreszeit. Er prägt sich die Straßennamen ein, die Pubs, die Sehenswürdigkeiten. Alles soll irgendwann so sitzen, dass er jeden Gast, der in sein Taxi steigt, ohne großes Grübeln an den Zielort bringen kann. Ein Londoner Taxifahrer nutzt kein GPS, so lautet eine der ungeschriebenen Regeln der Branche.
Aber warum eigentlich?
Mark Baxter, der langgediente Taxifahrer, winkt ab. Wenn es in der Stadt Stau gebe, dann schalte er das Navi höchstens ein, um sich die empfohlene Route anzuschauen. Genau dort, sagte er, fahre er dann nicht lang. Sollen sich die anderen, die Minicab-Fahrer, die Uber-Mitarbeiter, doch darauf verlassen. Die Londoner Taxifahrer, sagt er, hätten sowieso immer den schnellsten Weg im Kopf.
So oder so ähnlich reagiert Baxter auf die meisten Probleme, die die Black Cabs aktuell bedrohen. Die Corona-Pandemie, durch die jedes fünfte Taxi von den Londoner Straßen verschwunden ist? "Mehr Arbeit für uns, die noch übrig sind", sagt Baxter. "Das ist doch gut." Der Fahrdienstleister Uber, gegen den die Taxifahrer vor einigen Jahren noch wutentbrannt auf die Straße gingen? "Längst kein Problem mehr."
Die Corona-Pandemie hat die Taxi-Branche in London hart getroffen
Ein Blick in die Zahlen zeigt, dass die Lage längst nicht so rosig ist: Die Pandemie hat die Branche hart getroffen, Tausende Fahrer und Fahrerinnen wurden arbeitslos, heuerten stattdessen in der Baubranche oder im Handel an. Und auch jetzt ist die Zahl der Fahrgäste noch nicht wieder auf dem Level, auf dem sie vor 2020 war. Der Tourismus läuft erst nach und nach wieder an, die Londoner gehen seltener ins Theater, Homeoffice-Regelungen sorgen dafür, dass weniger Geschäftsleute in der Stadt unterwegs sind. Dazu kommen die hohen Lebenshaltungskosten und die Konkurrenz durch Anbieter wie Uber, die besonders bei jungen Menschen beliebt sind, weil sie Taxis gern via App rufen. Die traditionellen Black Cabs konnten dagegen bis vor nicht allzu langer Zeit nur an der Straße angehalten werden. Das hat sich mittlerweile geändert, auch die schwarzen Taxis lassen sich mittlerweile per App ordern – was einen deutlichen Aufschwung zur Folge hatte. Dennoch stehen 1200 Fahrern und Fahrerinnen, die die Branche pro Jahr verlassen, nur rund 300 neue Anwärter und Anwärterinnen gegenüber.
Sind die schwarzen Taxis also Relikt einer Zeit, die bald vorüber sein wird? Gefangen im Stolz auf eine Aufnahmeprüfung, die so heute gar nicht mehr notwendig ist? Zumindest hier an diesem Abend im Zentrum von London wirkt es nicht so. Der Glanz der Black Cabs, das große Versprechen, beides ist noch immer da. Nicht alle, die heute gekommen sind, werden am Ende ein Taxi steuern. Aber die, die es schaffen, werden sich fühlen, als hätten sie einen gewaltigen Berg bezwungen. So war es zumindest bei Mark Baxter, dem Taxifahrer, der sein Wissen weitergibt. Er wirkt fast ein wenig wehmütig, als er sagt: "Der Moment, in dem man seine Plakette bekommt, der ist einfach unvergesslich. Weil man etwas geschafft hat, das sonst fast niemand schafft."