Weil Erzieherinnen und Erzieher fehlen, müssen Kita-Gruppen schließen. Auch die von Nora und Samuel. Die Geschichte einer ganz normalen Familie, die nun ein gesellschaftliches Problem lösen muss.
Dies ist ein Text über eine ganz normale Familie, über ihren ganz normalen Alltag. Und über ein Problem, das denn Alltag fast aller Familien mit jungen Kindern in Bayern derzeit zum Kraftakt macht. Es geht hier um die Kettlers: Mutter Lena, Vater Jens und die beiden Kinder Nora (schon viereinhalb!) und Samuel (zwei). Sie sitzen an diesem Freitagnachmittag zusammen im Wohnzimmer ihres Augsburger Reihenhauses und von dem turbulenten Sommer, der hinter ihnen liegt, ist fast nichts mehr zu spüren. Geblieben ist nur etwas Wut und viel Unverständnis.
Nun also sitzt die vierjährige Nora am Tisch, vor ihr auf dem Teller liegt ein Stück Bananen-Nuss-Kuchen. Hinter ihr im Wohnzimmer steht Samuel am Sofatisch. Er will auch Kuchen haben. Er will ihn aber – wie jeder Zweijährige – selber abschneiden. Sein Papa Jens sitzt neben ihm und überwacht Samuels Bewegungen. Dass es an diesem Freitagnachmittag überhaupt Kuchen gibt, dass Jens geduldig zuschaut, wie sein Sohn den Kuchen zerlegt und ihn nicht selber zerteilt, weil das schneller ginge und weniger bröselte, dass die Eltern ihren (Familien-)Alltag inzwischen entspannter bewältigen können, liegt daran, dass Mutter Lena in der ersten Jahreshälfte alle verbleibende Kraft zusammengenommen und ein paar Dinge verändert hat. Für sich und für die Familie.
Seit September arbeitet die Architektin deshalb auf einer neuen Stelle. Statt 30 geht sie nun 20 Stunden in der Woche in die Arbeit. Auch Jens hat seine Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden reduziert. So erkaufen sie sich Zeit für all jene Dinge, die Mütter und Väter eben auch noch machen müssen: putzen, kochen, einkaufen und aufräumen. Trösten, zuhören, spielen und vor allem: da sein.
Lena sitzt an diesem Nachmittag neben ihrer Tochter am Esstisch und sagt: "Diese Zeit muss man sich natürlich leisten können." Die Kettlers verzichten auf Einkommen, um Lebensqualität zu gewinnen. Beides gleichzeitig zu haben, scheint für viele Menschen mit jüngeren Kindern unmöglich.
Frauen arbeiten siebeneinhalb Stunden
– und werden für drei bezahlt.
Mit ihrer Entscheidung geht Lena Kettler einen Weg, den die meisten Mütter gehen. Statistiken zeigen: Sobald Frauen zu Müttern werden, reduzieren sie die Zeit, die sie mit Erwerbsarbeit verbringen – also mit jener Arbeit, für die sie bezahlt werden. Es ist jedoch nicht so, dass Frauen deshalb weniger arbeiteten als Männer. Weltweite Zahlen belegen das Gegenteil. Sie rechnen alle Arbeit zusammen, die Männer und Frauen leisten, beziehen also neben der Erwerbs- auch die Sorgearbeit ein. Und so zeigt sich, dass Männer im weltweiten Schnitt sechs Stunden und 44 Minuten pro Tag arbeiten und für fünf Stunden und 21 Minuten bezahlt werden. Frauen dagegen arbeiten täglich im Schnitt sieben Stunden und 28 Minuten, bekommen aber nur für drei Stunden und drei Minuten Lohn. Das Gefälle ist umso drastischer, je ärmer und ländlicher die Länder sind, in denen die Männer und Frauen leben. Doch auch in Deutschland spüren Mütter diese Belastung.
Im Internet kursiert ein Video, das unter Müttern gerne herumgeschickt wird. Es zeigt eine Frau mit einer Kanne voll Wasser. Die Kanne symbolisiert ihre Zeit und Energie. Daraus versucht sie verschiedene Becher mit Aufschriften wie "Familie", "Job", "Freunde", und "Haushalt" zu füllen. Doch die Kanne ist immer längst leer, bevor der Pegel in allen Bechern nur annähernd voll ist.
In den vergangenen zwölf Monaten hat sich ein Problem so sehr zugespitzt, dass das Zeit- und Kraftreservoir vieler Eltern noch schneller versiegt: der Mangel an Erzieherinnen und Erziehern. Weil das Fachpersonal fehlt, stehen Eltern vermehrt vor der Frage: Wohin mit meinen Kindern, während ich arbeiten müsste? Der Hintergrund ist: In allen Betreuungseinrichtungen gibt es einen sogenannten Betreuungsschlüssel. Der legt fest, wie viele Kinder auf eine Fachperson kommen dürfen. In Krippen liegt er niedriger als in Kindergärten oder Horten. Sobald diese Quote nicht mehr eingehalten werden kann, muss die Einrichtung schließen. Dort kann dann nicht mehr garantiert werden, dass die Kinder gut betreut und gefördert werden. Nur: Weil es zu wenige Erzieherinnen gibt, wird die Personaldecke in vielen Kitas immer dünner. Werden Stellen frei, bleiben sie es lange. Die Kitas müssen reagieren und kürzen Öffnungszeiten, schließen Gruppen vorübergehend oder machen manchmal ganz zu.
Auch in der Kita von Nora und Samuel war das so. Lena Kettler erinnert sich noch genau an den Tag, als sie davon erfahren hat. "Ich weiß zwar nicht mehr, ob ich zuerst den Aufruhr in der WhatsApp-Elterngruppe mitbekommen oder die Mail gelesen habe", sagt sie. Aber sie weiß noch: Der Inhalt der Mail machte sie fassungslos. Darin war zu lesen, dass die Einrichtung aufgrund des Personalmangels ihre Betreuungszeiten anpassen müsse. Der Kindergarten hatte fortan nicht mehr bis 16.45 Uhr, sondern nur noch bis 15.30 Uhr geöffnet. In der Krippe machten die Verantwortlichen im Juli Gruppen zu, und zwar nach einem "rollierenden System". Heißt: Im Wechsel hatte immer eine von drei Gruppen geschlossen. Am Montag durften also die Kinder der Gruppen A und B kommen, am Dienstag jene aus den Gruppen B und C, am Mittwoch jene aus den Gruppen C und A und so weiter. Mal war die Gruppe der Kettlers also am Montag und Donnerstag geschlossen, dann am Dienstag und Freitag. "Das war überhaupt nicht planbar", sagt Lena Kettler. "Unsere beiden Eltern wohnen relativ weit weg. Wir können ja nicht zu ihnen sagen: Könnt ihr uns helfen? Aber immer an völlig unterschiedlichen Tagen in der Woche." Wie den Kettlers ging es vielen Eltern in der Kita. Das Unverständnis war groß, die Wut ebenso.
Lena Kettler löste das Problem, indem sie unbezahlten Urlaub nahm und einen Schlussstrich zog. Seit diesem Kita-Jahr bringen die Kettlers ihre Kinder in zwei andere Einrichtungen. "Weil wir umgezogen sind, hatten wir das schon länger vor", sagt Lena Kettler. Doch lange schoben sie die Entscheidung vor sich her. Auch weil sie wussten, wie umkämpft Kitaplätze in Augsburg sind. Und nicht nur dort.
In Bayern fehlen 62.900 Kitaplätze –
und 14.500 Fachkräfte, um diese zu schaffen.
In ganz Bayern ist die Zahl der Betreuungsplätze für Kinder unter sechs Jahren zwar seit 2013 sehr deutlich angestiegen. Doch genügend Plätze gibt es immer noch nicht. Die Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass in Bayern im Jahr 2023 etwa 62.900 Kitaplätze fehlen. Sollten sie entstehen, bräuchte es 14.500 Fachkräfte zusätzlich zu den schon jetzt offenen Stellen. Doch Fachkräfte zu gewinnen, ist nicht leicht, schreiben die Expertinnen der Bertelsmann-Stiftung. Dort heißt es in einem auf Bayern zugeschnittenen Bericht: "Zu wenig Personal verschlechtert nicht nur die Qualität der frühkindlichen Bildung, sondern auch die Arbeitsbedingungen der pädagogischen Fachkräfte. Dadurch sinken die Chancen, vorhandene Mitarbeiterinnen im Beruf zu halten, was den bestehenden Personalmangel weiter verschärft."
Wie schwer es in Augsburg sein kann, einen Betreuungsplatz zu finden, wussten die Kettlers schon. Als sie für ihre ältere Tochter Nora vor drei Jahren zum ersten Mal einen Platz suchten, fanden sie keinen. "Wir haben uns in 15 Einrichtungen beworben und 15 Absagen bekommen", sagt Lena Kettler. Schließlich betreute eine Tagesmutter Nora, bis sie doch in eine Kita mit Krippe und Kindergarten wechselte, damit auch Samuel dort betreut werden konnte.
Und dann fingen die Kettlers wieder an zu suchen. Sie bewarben sich im Kita-Portal der Stadt Augsburg, besuchten Tage der offenen Tür, Lena Kettler telefonierte Kindergärten und Krippen ab. Und sie hatten Glück. Samuel und Nora gehen wieder in die Krippe und den Kindergarten – aber in verschiedene Häuser. "Das macht es natürlich etwas komplizierter für uns", sagt Lena Kettler. Doch die Freude überwiegt. Endlich, sagt die Mutter, habe sie wieder ein gutes Gefühl, ihre Kinder in andere Hände zu geben.
Völlig vorbei sind die Sorgen nicht. Vater Jens sagt: "Wenn bald der Winter kommt, werden auch diese beiden Kitas sicher an einigen Tagen schließen, weil das Personal krank wird." Doch die Vorstellung hängt nicht mehr wie ein Damoklesschwert über Jens und Lena Kettler. Vor allem, weil die Eltern weniger Wochenstunden arbeiten. Das hat noch eine andere Auswirkung auf das Paar. "Früher habe ich um 14.30 Uhr aufgehört bei meiner Arbeitsstelle und bin sofort in die Kita geradelt. Ich hatte also nie eine Pause", sagt Lena Kettler. Erst war sie Architektin, dann Mama. Nun macht sie meistens um 12.30 Uhr Schluss. "Dann komme ich nach Hause und kann das Abendessen vorbereiten, mal das Bad putzen oder aufräumen. Erst um 14.30 Uhr muss ich wieder los, um die Kinder abzuholen. Das ist deutlich entspannter", sagt sie. Und Jens fügt an: "Manchmal ist jetzt sogar Zeit, sich kurz mit einem Kaffee aufs Sofa zu setzen."
Bei den Kettlers fließen nun also mehr Zeit und Kraft in die Becher "Haushalt" und "Ich" und ein bisschen weniger in den Becher "Erwerbsarbeit". Das entspannt die Eltern und damit die ganze Familie. Es gibt nun Freitage mit selbstgebackenen Kuchen. Und genug Geduld, um Kuchenbrösel zu ignorieren. Am grundlegenden Problem in der Gesellschaft hat sich aber wenig verändert. Noch immer ist Zeit Mangelware für Eltern. Aber vielleicht tut sich auch hier gerade etwas. Denn vermehrt gießen Mütter ihre Zeit- und Kraftreserven in den Becher "Aufstand". Vielleicht, weil das Problem noch nie so drängend war wie gerade.