Die Sportwelt schaut dieser Tage ins Allgäu: In Oberstdorf startet die Vierschanzentournee. Wir haben Einblicke bekommen, die für viele Besucher und Fans verborgen bleiben.
Es war in Oberstdorf, am 29. Dezember 2002, als Deutschlands wohl berühmtester Skispringer den Zenit seiner Laufbahn erreichte. Als amtierender Skiflug-Weltmeister angereist, Olympiasieger und Weltmeister im Teamwettbewerb und Vorjahressieger, jagte Sven Hannawald in Oberstdorf einer Sensation hinterher.
Im Vorjahr hatte er nicht nur das Springen in Oberstdorf, sondern auch die anderen drei Wettbewerbe der Vierschanzentournee gewonnen. Den Grand Slam des Skispringens hatte vor ihm noch nie jemand geschafft, und nun setzte Hannawald dazu an, dieses Kunststück zu wiederholen. Mit Sprüngen auf 119 und 125,5 Metern gewann er schon wieder, siegte damit saisonübergreifend bei fünf Tournee-Stationen in Folge; eine Serie, die bis heute niemand übertroffen hat. Sollte er den historischen Grand Slam aus dem Vorjahr gar wiederholen können?
Skispringen in Oberstdorf: Denkwürdiger Wettkampf von Sven Hannawald
Er konnte nicht. Beim Neujahrsspringen in Garmisch drei Tage später landete Hannawald auf Platz zwölf, die Gesamtwertung schloss er hinter Janne Ahonnen ab. Es sollten noch vier Weltcupsiege bis Saisonende folgen, die nächsten Jahre blieben sieglos, Hannawald erkrankte an Burnout und beendete schließlich seine Karriere. Der Sieg in Oberstdorf aber wird bleiben, als einer von vielen Tagen, an denen Sportgeschichte im Allgäu geschrieben wurde.
Auch in diesem Jahr blicken viele Sportfans in Deutschland und anderen Ländern kurz vorm Jahreswechsel nach Oberstdorf. Wenn die Bundesliga und die Elite vieler weiterer Sportarten in der Winterpause sind und sogar Biathleten oder Skifahrerinnen eine Weihnachtspause einlegen, setzen die Skispringer zum Höhepunkt ihrer Saison an. Traditionell startet die Vierschanzentournee in der südlichsten Gemeinde Deutschlands, auf der Schattenbergschanze, die seit diesem Herbst den Sponsorennamen "Orlen Arena" trägt.
Der Mangel an Konkurrenzveranstaltungen ist ein Erfolgsrezept der Vierschanzentournee. Dass die Springer nicht nur an einem Tag, sondern über eine Woche voll gefordert sind und dabei jeder Sprung sitzen muss, macht die Spannung der Tournee aus. Trotzdem trennen den Sieger oft nur wenige Punkte von seinen Verfolgern – wer gewinnen will, darf sich keinen Fehler erlauben. Und dann ist da noch die Tradition, die die Tournee so einzigartig macht. Seit inzwischen 70 Jahren findet sie jedes Jahr statt. Dass Oberstdorf dabei ist, hat es den anderen Austragungsorten zu verdanken.
So entstand die Vierschanzentournee
Die Skiclubs in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen planten in der Nachkriegszeit einen gemeinsamen Skisprung-Wettbewerb. Weil so im Programm schon zwei österreichische Stationen vorgesehen waren, suchte man gezielt nach einer zweiten deutschen Schanze zusätzlich zum Neujahrsspringen in Garmisch. Die Wahl fiel auf Oberstdorf, wo es schon damals eine über 40 Jahre alte Skisprung-Tradition gab.
Die erste Anlage war dort 1909 errichtet worden, an den Schattenberg zog man 1925 um. Das Eröffnungsspringen fiel noch aus, weil kein Schnee fallen wollte. Doch danach entwickelte sich Oberstdorf schnell zu einer der Hochburgen des Skispringens, bis die Anlage während des Krieges verfiel. Der Wiederaufbau erfolgte 1945, kurz bevor im Stillachtal der Bau der noch größeren Skiflugschanze begann. Weltmeisterschaften sollten im Laufe der Zeit auf beiden Anlagen ausgerichtet werden, zuletzt 2018 im Skifliegen und 2021 im Skispringen. Heimat der Tournee im Allgäu bleibt aber bis heute die Sprungschanze am Schattenberg.
So sieht es auf der Skisprungschanze in Oberstdorf aus
Immer wieder wurde die Anlage renoviert, zur WM 2005 gar neu gebaut. Für Besucher ist die Schanze fast das ganze Jahr geöffnet, die Zuschauerränge, das Trainerpodest oder die Aussichtsplattform kann man bei einer Besichtigung für sieben Euro Eintritt erkunden. Auch ein kleines Museum am Eingang gehört zur Anlage. Kurz vorm Jahreswechsel gilt der Fokus aber anderem: Den Athleten, wie etwa Lokalmatador Karl Geiger, der aus Oberstdorf kommt und unter anderem am Schattenberg Skispringen gelernt hat.
Nur zwei Mal fand in Oberstdorf nicht der Auftakt der Tournee statt: Gleich bei der Premiere 1953, die mit dem Neujahrsspringen in Garmisch startete. Und 20 Jahre später, als zum Jubiläum die Wettbewerbe in Innsbruck und Oberstdorf getauscht wurden. Heuer ist wieder Zeit für ein historisches Datum in Oberstdorf: An Neujahr wird erstmals eine Tournee-Siegerin der Frauen gekürt. Nach dem Auftakt am Samstag in Garmisch-Partenkirchen folgt im Allgäu das Finale der "Two Nights Tour", die parallel zu den Wettbewerben der Männer stattfinden wird. Und somit hat auch Oberstdorf nun ein Neujahrsspringen. Es könnte die Geburtsstunde einer neuen Tradition sein.