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Foto: Stefan Brunner/Schandmaul
Foto: Stefan Brunner/Schandmaul

Stefan Brunner von der Band Schandmaul arbeitet heute wieder als Vermessungsingenieur.

Beruf
04.02.2021

Von der Bühne auf den Bau: Künstler müssen in der Corona-Krise erfinderisch werden

Von Birgit Müller-Bardorff

Plus Stefan Brunner spielte vor tausenden Fans. Dann kam die Corona-Krise, Auftritte waren nicht mehr möglich. Er ist einer von unzähligen Künstlern, deren Leben nun völlig anders ist.

Man kommt ins Stutzen, wenn Meike Haas – fast ein wenig aufgekratzt – diesen Satz sagt: „Ich fühle mich wie in einem Austauschjahr.“ Jetzt, wo viele Schüler und Studenten ihre Auslandsaufenthalte absagen mussten, wo es überhaupt schwierig geworden ist zu reisen, hat die 51-Jährige dieses Gefühl des besonderen Abenteuers. Sie muss dafür ihren Wohnort München nicht einmal verlassen, geht einfach jeden Morgen in eine Grundschule, stellt sich vor eine 3. Klasse und hält Unterricht. Mathe, Deutsch, Heimat- und Sachunterricht, was gerade ansteht. Jetzt im Lockdown macht sie eben die Notbetreuung.

Meike Haas ist eigentlich Kinderbuchautorin, eine sehr erfolgreiche sogar. Mehr als 30 Bücher hat sie geschrieben, die in renommierten Verlagen veröffentlicht wurden und „Piratenjäger“, „Der ausgebüxte Weihnachtsesel“ oder „Der wundersame Weltraumzoo“ heißen. Doch wie vielen freischaffenden Künstlern brachen ihr im vergangenen Jahr die Einnahmen weg. Denn Autoren leben nur zur einen Hälfte vom Verkauf ihrer Bücher, den anderen Teil ihres Einkommens machen die Lesungen vor Publikum aus. Und die sind seit März 2020 gar nicht mehr – oder nur vor einer sehr begrenzten Zuhörerzahl – möglich.

Die erfolgreiche Schriftstellerin unterrichtet nun Kinder

Meike Haas ist eine von vielen Kreativen, die in der Krise den Sprung in einen neuen Job gewagt haben. Wie viele Künstler wegen Corona den Berufs wechselten – wechseln mussten –, dafür gibt es in Deutschland noch keine belastbaren Zahlen. In Großbritannien will laut einer Umfrage der dortigen Musikergewerkschaft rund ein Drittel allein der Musiker einen neuen Job anfangen.

Als Schriftstellerin Meike Haas sich auf der Internetseite des Kultusministeriums informieren wollte, welche Vorgaben sie bei Lesungen beachten müsste, blinkte ihr ein Aufruf entgegen. „Werden Sie Teamlehrer/In“, stand da. Es schien ihr wie die Lösung aller Probleme. „Das hat mich sofort angesprochen,“ erinnert sie sich an jenen Tag im Mai. „Ich wollte in die Schulen gehen und ich wollte damit Geld verdienen.“ Seit Beginn dieses Schuljahres unterstützt Meike Haas, selbst Mutter eines 19-jährigen Sohns und einer 16-jährigen Tochter, einen Lehrer, der zur Risikogruppe zählt und deshalb keinen Unterricht halten kann. Bis zum Lockdown besprach sich Haas jeden Nachmittag mit ihm, bekam Arbeitsunterlagen und ging am nächsten Morgen ins Klassenzimmer.

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Foto: Michael Kubitza
Foto: Michael Kubitza

Meike Haas ist eine erfolgreiche Kinderbuchautorin.

Für sie selbst ist es „eine gute Möglichkeit, mal ein anderes Leben auszuprobieren“. Mit einem Kollegium um sich herum statt der Einsamkeit am Schreibtisch, mit der Pflicht, etwas zu tun, auch wenn es nicht ihren Vorstellungen entspricht (nicht alles im Lehrplan findet sie gut) und mit einem festen Einkommen am Monatsende. Bis Ende Juli dauert dieses „Austauschjahr“ noch, danach will sie wieder die Kinderbuchautorin sein, die sie vorher war. Und kann, so hofft sie, dann auch wieder vor Drittklässler treten, um aus ihren Büchern vorzulesen.

Längst nicht alle freischaffenden Künstler finden für sich eine Nische, die sie die Corona-Krise mit Zuversicht überstehen lässt. Viele verdienen, wenn Lesungen, Konzerte, Kabarett- oder Theatervorstellungen ausfallen, keinen Cent. Von einem Tag auf den anderen kam im März letzten Jahres kein Geld mehr in die Haushaltskasse. Während für Arbeitnehmer größere Härten durch Kurzarbeitergeld abgefedert wurden, während Unternehmen auf staatliche Unterstützungen zählen konnten, standen freie Musiker, Kabarettisten, Tänzer, Schauspieler, Sänger und Schriftsteller vor einem Loch.

 

Kabarettistin bietet anderen Künstlern psychologische Beratung an

Kathi Wolf aus Weißenhorn im Kreis Neu-Ulm weiß das nur zu gut. Sie ist Schauspielerin und Kabarettistin. Eigentlich. Jetzt ist sie Betroffene und Beraterin. Im Auftrag des Arbeitskreises Kunst und Kultur der Ulmer Volkshochschule bietet sie jeden Montag eine Sprechstunde mit psychologischer Beratung für vom Lockdown frustrierte Künstler an: den „Mad Monday“. Verrückter Montag. „Ich versuche, Werkzeuge an die Hand zu geben, wie man aus den kleinen und großen Löchern wieder herauskommt.“ Der Bedarf ist groß, stellte sie nach den ersten Sprechstunden fest.

Wolf selbst spürt schon die Vorfreude auf den Zeitpunkt, wenn es wieder losgeht. Vielleicht ein paar Auftritte im Sommer, aber richtig wohl erst im nächsten Jahr. Vor drei Jahren hatte sie als Darstellerin maßgeblichen Anteil am Erfolg des Films „Landrauschen“, der beim Max-Ophüls–Festival in Saarbrücken ausgezeichnet wurde. Auch zum diesjährigen Festival vor zwei Wochen wäre Wolf gerne gereist, um einen neuen Kurzfilm zu präsentieren. Stattdessen übernahm sie die Moderation eines virtuellen Publikumsgesprächs. Das Festival fand nur im Netz statt. Online-Moderationen, Werbedrehs unter Hygienebedingungen, Kurzauftritte als Kabarettistin im Netz – das sind seit knapp einem Jahr die Möglichkeiten, wie Kathi Wolf ihre Kunst in die Öffentlichkeit bringen kann. „Ich kann mich schon eine Weile mit mir selbst beschäftigen und versuchen, mich zu inspirieren, aber irgendwann fehlt mir dann auch das Futter für meine Kreativität“, sagt sie. Weil sie nichts anderes zu tun hatte, stellte sie im Dezember einen Comedy-Adventskalender auf Facebook, „obwohl das doch gar nicht mein Ding ist, digital zu arbeiten. Ich brauche den direkten Austausch.“

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Foto: Andreas Brücken
Foto: Andreas Brücken

Kabarettistin Kathi Wolf bei einem ihrer Auftritte.

Doch dann kam das, was Kathi Wolf als „Geschenk“ bezeichnet, die Möglichkeit, eine Elternzeitvertretung in der Jugendhilfe in Ulm anzutreten. Beim psychologischen Fachdienst, der Wohngruppen für Kinder und Jugendliche betreut, klärt sie in einer 60-Prozent-Stelle den therapeutischen Bedarf ab und ist Ansprechpartnerin für die Mitarbeiter. Denn neben ihrer künstlerischen Tätigkeit hat die 34-Jährige ein Fernstudium der Psychologie absolviert, um sich im unsicheren Schauspiel-Gewerbe ein zweites Standbein zu schaffen. Eines, das gut zu ihrer künstlerischen Arbeit passte. Die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, Rollen durchzuspielen, das war ihr als Schauspielerin ja nicht fremd. Künstlerisch hat sich das Studium in ihrem Kabarett-Programm „Psycho-Party“ niedergeschlagen.

Über finanzielle Rücklagen verfügen freie Künstler oft nicht. Wie auch, bei einem durchschnittlichen Jahresgehalt von 17500 Euro. Das sprichwörtliche Leben von der Hand in den Mund ist für viele Alltag. Kreativität ist da nicht nur eine Frage der künstlerischen Verwirklichung, sondern auch nötig für die Sicherung des Lebensunterhalts.

Der Kulturfunktionär spricht von einer dramatischen Lage für Künstler

Die Corona-Krise ließ dies wie unter einem Brennglas hervortreten. Staatliche Hilfsprogramme griffen im Fall der freien Künstler nicht, weil die nur für die laufenden Betriebskosten, nicht aber für Miete, Lebensmittel und Kita-Gebühren verwendet werden durften. Zwar wurden die Unterstützungen mit Dauer der Krise angepasst, eine große Zahl Kunstschaffender hat mittlerweile Zuschüsse erhalten.

Nennenswert verbessert hat sich ihre Lage dadurch aber nicht, weiß Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats. „Die Situation der Künstler ist jetzt sogar dramatisch schlimmer als in der ersten Welle“, stellt er fest, denn zur ökonomischen Not komme eine emotionale, die sie an ihrer künstlerischen Existenz zweifeln lasse. Während viele beim ersten Lockdown noch gedacht hätten, „den Mist haben wir in ein paar Wochen hinter uns und dann geht es wieder los“, sei dieses Gefühl nun verschwunden. Das Licht am Ende des Tunnels sehe ein Großteil freischaffender Künstler nun nicht mehr, berichtet Zimmermann. „Wir hören von vielen, die sich neu orientieren müssen.“

Fragt man bei der Künstlersozialkasse (KSK) nach, die für freischaffende Künstler eine Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung ermöglicht, so haben sich im vergangenen Jahr von knapp 200.000 Versicherten 159 aus der KSK abgemeldet. Ein Hinweis darauf, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr mit ihrer Kunst bestreiten.

So ist es auch bei Stefan Brunner. Er ist Schlagzeuger von Schandmaul, einer Band, die sich mit ihrem Mittelalter-Folk-Rock eine große Anhängerschar erspielt hat. Beim legendären Festival in Wacken traten sie regelmäßig auf, in ihrer mehr als 20-jährigen Bandgeschichte verkauften sie rund eine Million Platten. Aber: Brunner und die anderen fünf Mitglieder der Band sind ausgestiegen aus dem Profigeschäft. Als Hobbyband möchten sie zwar nicht gerne bezeichnet werden, „schließlich arbeiten wir immer noch professionell und haben auch gerade professionell eine neue Platte aufgenommen“, aber Tatsache ist: „Wir stecken in die Band mehr Geld hinein, als wir einnehmen, und damit ist es ein Hobby geworden.“

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Für ein Gespräch hat Stefan Brunner jetzt immer erst am späten Nachmittag Zeit. Wenn man ihn dann fragt, wie der Tag so war, sagt er: „Nicht schlecht, die Temperaturen waren angenehm und es hat nicht geregnet.“ Der Mann, der früher in dampfenden Arenen und stickigen Clubs seinem Geschäft nachging, verbringt heute beruflich viel Zeit an der frischen Luft.

16 Jahre nach seinem Studium arbeitet er als Vermessungsingenieur in dem Büro, in dem er schon während seines Studiums jobbte. „Ich bin praktisch Berufsanfänger und zahle jeden Tag Lehrgeld“, sagt er. Er habe letztes Jahr im März recht schnell ein ganz schlechtes Gefühl gehabt, erzählt Brunner auf der Heimfahrt im Auto. Die Freisprechanlage hackt seine Stimme manchmal ab, aber dennoch ist zu hören, wie erleichtert der Schlagzeuger ist, diese Chance bekommen zu haben.

Das Leben der Familie mit zwei Kindern in Fürstenfeldbruck muss finanziert werden, und die Existenz als Musiker gab das im letzten Jahr nicht mehr her. „Wir werden mit Sicherheit auch die nächsten ein bis zwei, vielleicht sogar drei Jahre nicht davon leben können“, ist sich Brunner sicher. Niemand nehme derzeit das Risiko auf sich, Konzerte zu planen. Bei einer Branche, in der ein Vorlauf von ein bis zwei Jahren nötig sei, biete sich da keine Perspektive.

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Foto: Ralf Lienert
Foto: Ralf Lienert

Schandmaul spielten vor tausenden Fans und begeisterten ihre Anhänger - etwa bei diesem Konzert im Jahr 2017.

Auch Brunners Bandkollegen sind wieder in ihre alten Berufe zurückgegangen, geben Unterricht, arbeiten als Einzelhandelskaufmann oder Sonderpädagoge. Im Sommer und Herbst haben sie noch vier Konzerte gespielt, zwei davon im Stadion in Mönchengladbach – vor 800 Leuten, so wenige wie selten. „Das ist nicht auszuhalten, das tut einfach nur weh“, sagt Stefan Brunner und schiebt hinterher: „Obwohl die Leute wirklich gut drauf waren.“ Doch für Brunner steht fest, dass diese „Hygienekonzerte“ in den nächsten Jahren eine Ausnahme bleiben werden. „Schandmaul wird ein Spaßprojekt sein, das wir nicht sterben lassen wollen, aber meinen sicheren Job werde ich dafür nicht wieder an den Nagel hängen.“

Und das ist die Gefahr, die über der Kultur schwebt: Was wird noch übrig sein von der kulturellen Landschaft, um deren Vielfalt Deutschland so oft beneidet wurde, wenn die Pandemie tatsächlich beherrschbar geworden ist? Wird es sie noch geben, all die Theater und Museen, die Clubs und Kneipen, in denen Kunst, ob subventioniert oder frei, eine Heimat gefunden hat? Wie viele Sänger, Tänzer, Schauspieler, Maler, Kabarettisten und Musiker werden den Lockdown ökonomisch und künstlerisch überstanden haben? Sind dann auch noch Technik und Management vorhanden, um das Kulturleben zu organisieren?

Wie wird das Kulturleben nach der Pandemie sein?

All das sind Fragen, die auch den Kulturrat beschäftigen und die dessen Geschäftsführer Zimmermann zu einem Schluss kommen lassen: „Wir brauchen bessere Absicherungsmodelle für die Kulturschaffenden.“ Er denkt an die Erweiterung der Arbeitslosenversicherung für freie Künstler und bringt das bedingungslose Grundeinkommen ins Spiel. Und auch die Notwendigkeit einer stärkeren Lobbyarbeit. Künstler und Verbände müssten in Zukunft deutlich mehr Gesicht zeigen, wenn es um ihre Interessen gehe.

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„Die Pandemie hat gezeigt, wie angreifbar unser System ist“, sagt Olaf Zimmermann und berichtet von einem Gedankenspiel, das Kulturfunktionäre in der Vergangenheit ins Gespräch brachten, wenn sie mit der Politik wieder einmal unzufrieden waren: „Was wäre, wenn wir einen Tag lang streiken würden? Wenn Theater, Museen, Bibliotheken, Konzertstätten einen Tag einfach geschlossen blieben? Undenkbar und unangemessen erschien uns das“, erinnert er sich. Seit zehn Monaten ist es genau so.

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